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Barth, Karl
1. Werdegang K. B., ref. Theologe, * 10.5.1886 in Basel als Sohn des Prof. für KG (NT) Fritz B., studierte in Bern, Berlin, Tübingen, Marburg; 1909 Hilfspfarrer in Genf, 1911 Pfarrer in Safenwil (Aargau), 1921 Honorarprof. in Göttingen, 1925 o. Prof. in Münster, 1930 in Bonn, 1935 wegen Widerstands gegen den Nationalsozialismus entlassen, seitdem in Basel. 1. Theologisch beeinflußt vom Neuprotestantismus (historisch vertreten durch A. v. Harnack, ethisch durch W. Herrmann), philosophisch vom Neukantianismus (Cohen, Natorp), zeigt sich B. bereits in der frühen Untersuchung »Der Glaube an den persönlichen Gott« (ZThK 24, 1914, 21-32. 65-95) als Denker eigenen Stils. Innerhalb religionsphilosophischer Problematik sucht er die Botschaft des Evangeliums als Spannungseinheit von »Seele« und »Reich Gottes« für die »Kultur der Persönlichkeit und der objektiven Werte« fruchtbar zu machen. Gewisse Form- und Sachelemente des späteren Systematikers sind bereits virulent: das Drängen auf rationale Klarheit und aktuale Konkretisierung; das Vermögen, historisch eingefrorene Fragestellungen in Fluß zu bringen; dialektisches Verknüpfen von Totalaspekten; bei Schärfe logischer Konsequenz, unter »Verzicht auf eine Einheitsformel«: universal-reale Zuordnung von Gott und Mensch. - Über der Predigtaufgabe des Pfarrers, das in der Bibel bezeugte Wort für den Konkreten Menschen als Gottes Rede wirksam zu machen, erkannte er das Ungenügen der rein-historischen Exegese und die Notwendigkeit der Erneuerung von Auslegung und Verkündigung. Antriebe der Schweizer Religiös-Sozialen Ragaz und besonders Kutter (der »lebendige Gott«, soziale Gerechtigkeit) sowie der beiden Blumhardts und ihrer realistischen Reichgottes-Hoffnung (»Jesus ist Sieger!«) vertieften sein Verständnis der wesenhaften Solidarität von Kirche und Welt. Franz Overbecks prophetische Kritik an Theologie und »modernem« Christentum schärfte sein Urteil über dessen Unwesen und die Erwartung, Theologie als Eschatologie darzustellen. Der durch Schleiermacher begründete, durch Ritschl modifizierte, in der Ära Harnack/ Troeltsch gipfelnde »Kulturprotestantismus« sah sich unerwartet einem radikalen Angriff aus eigener Mitte ausgesetzt, dessen reformatorische Kraft von fast allen theologischen Richtungen - »liberalen« und »positiven« - als revolutionär empfunden wurde. Im Protest gegen ein idealistisch und pietistisch mißdeutetes Christentum suchte B. der Theologie, die sich in Anthropologie verwandelt hatte, ihr verlorenes »Thema« zurückzugewinnen. An die Stelle des »religiösen Menschen« hatte wieder Gottes »Offenbarung« in seinem ureigenen »Wort« zu treten. Durchbrüche auf diesem gewagten, methodisch zunächst ungeschützten Wege bildeten die beiden Auflagen des »Römerbriefs« (1919 und, völlig verändert, 1922 u. ö.). Im steten Ringen mit dem Text des NT und in erregender Sprache, die sich erst in weiteren exegetischen Arbeiten über 1Kor 15 (1924) und Phil (1928) abklärte, wird mittels dualistischer Kategorien (Platons und bes. Kierkegaards) die radikale Krisis der Zeit durch die Ewigkeit verkündet. Der »unendliche qualitative Unterschied« zwischen beiden wird durch Jesus Christus, das »absolute Paradox«, aufgedeckt, das als »Ärgernis« im »Augenblick« historisch-unanschaulich geschehend den Glauben als »Gleichzeitigkeit« setzt, »Religion« (= Gesetz) als Unglauben erklärt und das christliche Dasein (negativ) zum »Hohlraum«, (positiv) zur aufs Eschaton hinweisenden »Demonstration« relativiert. - In Verbindung mit Gogarten, Thurneysen und Merz (Hg.) begründete B. 1922 die Zeitschrift »Zwischen den Zeiten«, setzte ihr aber als »produktivem Mißverständnis« im Herbst 1933 durch schroffen Bruch mit Gogarten (wegen dessen Anthropologisierens) ein Ende. Spätere Abhandlungen B.s wurden in die Reihen »Theologische Existenz heute« (1933 ff.; NF 1946 ff.) und »Theologische Studien« (1938 ff.) sowie in »Ev. Theologie« (1934 ff. aufgenommen. B. verstand die an den Reformatoren ausgerichtete »Theologie des Wortes Gottes«, der bereits 1922 »von irgendeinem Zuschauer« der Name ð »dialektische Theologie« »angehängt« wurde, zunächst als »Randglosse«, »Korrektiv«, »das bißchen Zimt« (Kierkegaard) zu jeder Theologie, gab ihr aber in seiner »Christlichen Dogmatik im Entwurf« 1927 die Gestalt von »Prolegomena« (nur ein Bd). Die Weiterführung nötigte ihn zu grundlegendem Neuansatz: die altkirchliche und altprot. Überlieferung aufzuarbeiten und in Auseinandersetzung mit der röm.-kath. Kirche, dem Neuprotestantismus und der Philosophie die eigenen Denkvoraussetzungen zu klären. Sein Buch über Anselm (1931), das letzte Reste philosophischer und anthropologischer Begründungen ausmerzt und die »noetische Rationalität des Glaubens« erfaßt, bezeichnet den formalen Wendepunkt von der Dialektik zur analogia fidei (Analogie, 4), bei zähem Festhalten, ja kräftigerem Herausarbeiten der »Sache«: einer »Theologie der Gnade in Jesus Christus«, die seinen Namen als Gottes Offenbarung auslegt. 2. Kirchliche Dogmatik (KD) Das Ergebnis der trinitarisch begründeten »christologischen Konzentration« ist die nach Umfang wie Inhalt gleich gewichtige Kirchliche Dogmatik, eines der größten Werke der modernen Geisteswissenschaft und vielleicht die bedeutendste systematisch-theologische Denkleistung im 20. Jh. In kühnem Rückgriff, über Reformation und MA hinweg, auf die Patristik werden besonders Denkmotive von Athanasius, Augustin (vielleicht auch Origenes?) und der Reformatoren kritisch und konstruktiv aufgenommen. Diese bisher auf 10 Bde. angewachsene, noch nicht abgeschlossene Dogmatik behandelt in oft fast zu breiter, aber eindrucksvoller Gründlichkeit und unter Auseinandersetzung mit repräsentativen Geistern der Gegenwart, monumental gegliedert: a) die Lehre vom Worte Gottes (Prolegomena); b) von Gott; c) von der Schöpfung; d) von der Versöhnung und e) von der Erlösung (noch ausstehend). Einige Konturen seien angedeutet: a) Dogmatik ist Funktion der Kirche und vollzieht den Durchgang des Denkens von der Bibel zur Verkündigung. Ihre Aufgabe ist die Kritik kirchlicher Rede von Gott seitens seines mit dem Menschen Jesus Christus identischen Wortes, das als verkündigtes, geschriebenes, offenbartes dreifache Gestalt hat. Da dadurch die menschliche Existenz theologisch relevant wird, muß die Dogmatik auch Ethik sein und diese in ihre vier Aspekte als Ethik des Gebotes, der Ordnung, des Gesetzes und der Verheißung Gottes einbeziehen. b) Gott ist im innertrinitarischen Sein ewig sich selbst gegenüber. In der Offenbarung macht er sich zum Gegenüber des Menschen und wird, im Geschehen seines Übergriffes, durch sich selbst erkennbar. Die Freiheit seiner dem Menschen begegnenden Gnade schließt das röm.-kath. wie das neuprot. Entsprechungsdenken - die (ontologische) analogia entis, die »natürliche Theologie«, den »Anknüpfungspunkt« - »diskussionslos« aus, fordert aber die (aktuose) analogia fidei. Gottes Wirklichkeit (Wesen) meint sein Gottsein in gemeinschaftschaffender Offenbarung. In der Fülle seiner Vollkommenheiten (Eigenschaften), die je Gestalt der Liebe bzw. der Freiheit sind, »ist« er selber sein Wesen. - In der Lehre von Gottes Gnadenwahl wird das altref. Prädestinationssystem umgeschmolzen. An die Stelle des »absoluten Dekrets« tritt die universale Tat göttlicher Erwählung, die gnädig und frei zugleich ist (Gnaden-Wahl). Das abstrakte Prinzip wird durch die konkrete Person Jesu Christi ersetzt, in dem Gott dem Menschen die Seligkeit, sich selbst aber die Verdammnis zudenkt. Jesus Christus ist der erwählende Gott und der erwählte Mensch. Diese Gnadenwahl, in der Gott unsere Verwerfung für sich wählte, ist das Evangelium in nuce. - Auf ihr ruht die Ethik, in der das Gesetz als »die Gestalt des Evangeliums«, als Anspruch, Entscheidung, Gericht des einen Wortes Gottes verstanden wird. c) Von der in der Person Jesu Christi vollzogenen Einheit Gottes mit dem Menschen wird die Schöpfungslehre entfaltet. Die Schöpfung ist der äußere Grund des »Bundes« und dieser der innere Grund der Schöpfung. Als Werk Gottes in Jesus Christus ist sie Gottes Ja zur Welt, Wohltat, Verwirklichung und Rechtfertigung zugleich. - Auf die Christologie wird auch die Anthropologie begründet. Der Mensch ist von ihr her zur Selbstverantwortung befähigt und zu Gottes Bundesgenossen bestimmt. Er hat die Grundform seiner Humanität als Mitmenschlichkeit zu verstehen; er ist ganzer Mensch als Leib und Seele; Mensch in der ihm gegebenen und befristeten Zeit. - Im christologisch bevorzeichneten Verhältnis Schöpfer-Geschöpf wird neben Gottes väterlicher Vorsehung und Erhaltung das der guten Kreatur feindselige »Nichtige« (das Böse, die Dämonen) in seiner von Jesus Christus her erledigten Bedrohlichkeit erkannt: durch Gottes Barmherzigkeit zugelassen und seinem Willen funktionell unterstellt. - Die spezielle Ethik hat, in Abgrenzung gegen Kasuistik und Ordnungsethik, die Beziehung von Ereignis und Ordnung, den Schnittpunkt von »Vertikaler« und »Horizontaler« zu bezeichnen und das eine Gebot des gnädigen Gottes und Schöpfers als Heiligung schon des geschöpflichen Handelns zu bestimmen. Sie wird als Ethik der Freiheit - vor Gott, in der Gemeinschaft, zum Leben, in der Beschränkung - entwickelt. d) In der (bisher unvollendeten) Lehre von der Versöhnung wird diese vom kategorial verstandenen Gnadenbund her als die freie Tat der Treue Gottes begriffen. Im Gang des Sohnes Gottes in die Fremde und der Heimkehr des Menschensohnes ereignet sich Gottes Erniedrigung zum Knecht und dessen Erhöhung zum Herrn, darin aber des Menschen Rechtfertigung und Heiligung und der Gemeinde Sammlung und Erbauung durch den Hl. Geist. 3. Wirkungen B.s Wirkung auf die Öffentlichkeit wechselte nach Zeit und Lage an Weite und Tiefgang. Seine temperamentvolle Kritik am selbstsicheren Kirchentum und seinem »violetten Jh.« (»Quousque tandem?« ZZ 8, 1930, 1-6) wies »die Not der ev. Kirche« auf (ebd. 9, 1931, 89-122). In seiner vollmächtigen Polemik gegen die ð »Deutschen Christen« wurde er zum Rückhalt der ð »Bekennenden Kirche« und zum Vater der »Barmer Erklärung« (ð Barmen). Seine gelegentlichen Trost- und Warnrufe während und nach dem zweiten Weltkriege machten ihn zum Seelsorger unterdrückter Völker und zum Gewissen der Christenheit, die auf der Konferenz des ökumenischen Rates der Kirchen in Amsterdam 1948 (Ökumenische Bewegung) in B. ihren geistreichsten Sprecher fand. Weniger überzeugte seine Analyse der deutschen Katastrophe 1945. In seiner theologischen Arbeit und in der sie anhaltend begleitenden Predigt- und Vortragstätigkeit sowie in vielseitiger Korrespondenz stellte er sich, weit über den ref. Raum (Holland, Schottland, Ungarn, Tschechoslowakei) hinaus, den politischen Tages- und Grundsatzfragen und zeigte sich als Schriftsteller europäischen Formats. Die letzte Bibliographie (1906-55) enthält 406 Titel deutscher Veröffentlichungen und 109 Übersetzungen in 12 Sprachen (darunter ins Japanische und Koreanische). Die theologische Gegenkritik, die sich in der ersten Periode gegen die negative »Diastatik« (Lit. dazu s. RGG2 I, 778), in der zweiten gegen die positive »Synthetik« richtete, erwies sich z. T. als wenig sachgerecht. Rückläufig erscheint B.s Theologie als einheitliches, bei aller Labilität durchaus stabiles Variationsgefüge über ein einziges Thema: »Gottes Freiheit für den Menschen ist das Sein Jesu Christi«. Dieses theologische Axiom, das ein konzentratives und ein expansives Element birgt, wird von B. bis in seine äußersten Voraussetzungen und Folgerungen durchdacht und rührt eine Fülle von Fragen auf. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit lassen sich stichwortartig folgende Grundprobleme andeuten: a) Die theologische Axiomatik stellt folgende Fragen: grundsätzlich: nach der Möglichkeit der Dogmatik als methodisch diskutierbarer und kontrollierbarer Wissenschaft; erkenntnistheoretisch: nach dem Verhältnis von Offenbarung und Vernunft; ontologisch: nach dem von Akt und Sein (Analogieproblem); hermeneutisch: nach dem von theologischer und historisch-kritischer Exegese; dogmatisch: nach dem vom Kerygma und Reflexion; ethisch: nach dem von Ereignis und Ordnung; methodisch: nach dem von theologischer und morphologischer Denkbemühung. b) Die christologische Konzentration stellt die Fragen nach der Geschichtlichkeit: der Offenbarung; des Verheißungsgeschehens (vom AT zum NT); der Erwählung (Ewigkeit-Zeitproblem); der zwischen Gott und die Mächte gestellten Existenz von Mensch und Menschheit; der Kirche; der Sakramente; der »Institutionen«. c) Die universale Expansion stellt die Fragen nach der Antithetik von: Gesetz und Evangelium; Zorn und Gnade; Sünde und Glaube; Gericht und Heil; nach der Überwindung etwaiger Entschärfung von Versöhnungslehre und Eschatologie; nach der Dialektik von Solidarität und Separation: von Kirche und Welt; Christentum und Kultur; nach der Grenze von Kirchen und Konfessionen; der Sicherung gegen allseitige Relativierungen und Nivellierungen. Diese Fragen werden durch den großartigen Monismus der Theologie B.s eröffnet und müssen als offene Fragen wachgehalten werden. Sie behalten, seitens der Kritiker (s. Lit.) je verschieden umrissen, ihr unverjährbares Recht. Über die theologiegeschichtliche Bedeutung B.s läßt sich von Zeitgenossen naturgemäß kein abschließendes Urteil abgeben. Soviel steht fest: B.s Theologie hat seit den zwanziger Jahren weithin das »Klima« theologischen Arbeitens bestimmt. Auch die historischen Disziplinen empfingen, z. T. unbewußt oder widerwillig, Impulse seines Denkens. Hinter gewisse Grunderkenntnisse bei K. B. kann die ev. Theologie kaum zurück, ohne anachronistisch zu werden. Ob und wie sie über sie hinausgelangt, entzieht sich gegenwärtiger Feststellung.
G. Gloege aus: Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Auflage, Bd. 1, S. 894ff. (c) J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) Mit freundlicher genehmigung des Verlages veröffentlicht. Bitte beachte Sie die Internetseiten der 4. Auflage der RGG: http://www.mohr.de/rgg4.html
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