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Lektion 1: Die Evangelienüberlieferung - Einführung Der zeitliche Abstand zwischen Jesus
und den Evangelien Der zeitliche Abstand zwischen
Jesus und den Evangelien 1. Die ersten Christen erfuhren Jesus von Nazareth bald nach seinem Tod als Auferweckten; Gott hatte die Richtigkeit seiner Botschaft und seines Weges bestätigt. Das war ihnen Anlaß, seine Verkündigung fortzusetzen und zugleich über seine Rolle innerhalb des göttlichen Handelns überhaupt nachzudenken. U.a. in den hälthon-Worten (Mk 2,17b u.ö.) fand dieses Nachdenken über die Sendung Jesu seinen Ausdruck, bei denen teilweise wohl jesuanische Aussagen über das Wirken und Wollen Gottes transponiert wurden in Aussagen, die Jesu Wirken kennzeichnen sollten. 2. Das Christentum begann als innerjüdische Erneuerungsbewegung, die recht bald auch Nichtjuden in ihre Gemeinschaft einbezog. In die Verkündigungsarbeit mußte nunmehr auch die Lebenswelt der Nichtjuden einbezogen werden. So bedenkt Mk 10,10-12 die griechisch-römische Rechtslage, daß die Initiative zur Scheidung auch von der Frau ausgehen kann (ob dies auch für das frühe Judentum gilt, ist derzeit in der wissenschaftlichen Literatur heftig umstritten). Gehobeneren Bildungsansprüchen der nichtjüdischen Umwelt sucht vor allem Lukas mit seiner Darstellung Jesu und der Apostel gerecht zu werden. 3. Je länger je mehr mußte sich das Christentum mit verschiedenen kritischen Rückfragen auseinandersetzen, die geeignet waren, seine Existenzberechtigung in Zweifel zu ziehen. Zu klären waren sein Verhältnis zu den Glaubenstraditionen Israels ebenso wie sein Verhältnis zu der umgebenden heidnischen Umwelt, der es aufgrund seiner Distanz zur Verehrung der jeweils anerkannten städtischen bzw. staatlichen Gottheiten auffiel. Matthäus nimmt daher die Erfüllungszitate in sein Evangelium auf und betont die Thora-Treue Jesu (Mt 5,17-19) und seiner Gemeinde (Mt 24,20); auch Lukas zeichnet Jesus von Nazareth in die Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel ein (Lk 2,29-35) und grenzt Jesus von dem Vorwurf des Aufrufs zur Steuerverweigerung (Lk 23,1-25) und Paulus von dem Vorwurf der Unruhestiftung ab (Apg 21,37-39; 24,1-21). 4. Zwischen 60 n. Chr. und 70 n. Chr. starben drei wichtige Figuren aus der Anfangszeit der Kirche: Petrus, Paulus und der Herrenbruder Jakobus. Der Gefahr des Traditionsabbruches galt es, durch eine relative Fixierung der Überlieferung zu wehren. Neben den rein zeitlichen Abstand zur Geschichte des historischen Jesus tritt die Verschiedenheit des jeweiligen geistigen und religiösen Kontextes, in den hinein die Botschaft zu verkündigen ist. Reflex dessen ist die durchaus divergierende Präsentation Jesu in den Evangelien, die besonders eindrücklich wird, wenn man den Beginn der öffentlichen Wirksamkeit Jesu bei Markus (Mk 1,21-39), Matthäus (Mt 4,23-7,29) und Lukas (Lk 4,14-6,49) miteinander vergleicht. Die Notwendigkeit
der Rückfrage nach dem irdischen Jesus Die Notwendigkeit der Rückfrage nach Jesus
wurde in der Alten Kirche anlässlich der Kritik an sog. apokrypher
Evangelienliteratur virulent, aber erst in der Neuzeit auch auf die kanonisierten
Bibeltexte bezogen, die zuvor als theologisch wie historisch irrtumslos
gegolten hatten. Der Hamburger Orientalist Hermann Samuel Reimarus, Vertreter
des englischen Deismus, hat 1774-1778 erstmals auch in den Evangelien
zwischen der Lehre Jesu und den Aussagen seiner Jünger unterschieden
und letztere als deren Betrugsmanöver deklariert, die die Massen
von dem Scheitern der weltlichen Hoffnungen Jesu ablenken und den Jüngern
weltliche Vorteile verschaffen sollte. Unabhängig von seiner Betrugstheorie
blieb auch allgemein-theologisch die Aufgabenstellung gültig, sich
das Werden der kirchlichen Verkündigung in Kontinuität und legitimer
(vgl. Joh 16,13!) wie illegitimer Diskontinuität zu dem irdischen
Jesus von Nazareth zu vergegenwärtigen. Literatur zur Weiterarbeit Die Geschichte der neuzeitlichen Rückfrage
nach dem irdischen Jesus kann hier nicht im einzelnen dargestellt werden.
In einem langen Diskussionsprozeß haben sich vor allem die folgenden
Kriterien für die Ermittlung ursprünglichen Jesusgutes als maßgeblich
herauskristallisiert: Literatur zur Weiterarbeit: Ein kurzer Überblick
über das in diesem Bibelkundekurs vorausgesetzte Bild des historischen
Jesus Aufgrund des Kriteriums der störenden Überlieferungen
können Taufe und Kreuzigung als historisch gelten. Im Sinne des selben
Kriteriums wahrscheinlich authentisch sind eine Reihe hyperbolischer und
schockierender Elemente in Jesu Wirken (vgl. Mk 1,17; 4,3-9*; 9,43* Lk
9,60; 16,1-8a*; 16,16*; Mt 20,1-16*; EvThom 98 u.a.), die i.w. Gottes
bedingungslosen Zu-spruch, Gottes unbedingten Anspruch und die Dringlichkeit
der Entscheidung thematisieren und sich verbinden lassen mit dem in Lk
11,20 formulierten spezifischen Selbstanspruch Jesu, daß in seinem
heilenden Wirken sich die auf Erden erwartete, im Himmel jedoch schon
wirkliche und im Lobpreis besungene Gottesherrschaft Bahn bricht, und
daß sich an der Stellung des Menschen zu Jesus das eschatologische
Geschick des Menschen im Gericht durch den kommenden Menschensohn entscheidet
(Lk 12,8f.). So ist Jesus unter historischer Betrachtung m.E. ein charismatisch
tätiger, ganz Israel und primär Israel zugewandter messianischer
Prophet. Analogien zur Qumrangemeinschaft zeigen sich in Details der Ehehalacha
und in der Radikalität des Sündenverständnisses, Analogien
zu den Pharisäern im Selbstanspruch, ganz Israel für die kommende
Gottesherrschaft sammeln zu wollen (s. den Exkurs zu Lk 18,9-14), Differenzen
zur Qumrangemeinschaft sind durch Jesu weitgehendes Desinteresse am Kultus
bedingt, Differenzen zu den Pharisäern liegen in Jesu offensivem
Reinheitsverständnis beschlossen, demgemäß nicht die kultische
Unreinheit, sondern die Reinheit das Gegenüber verwandelt (Berger).
Analogien und Differenzen markieren somit eine teilweise auch eigenständige
Position Jesu innerhalb des damaligen Judentums. Der Prozeß
der Überlieferung der Worte und Taten von Jesus Mit gewisser Wahrscheinlichkeit kann man davon
ausgehen, daß u.a. um das Leidensgeschehen recht bald eine Folge
von Jesuserzählungen entstand, galt es doch, die Kreuzigung des Initiators
der eigenen Bewegung gegenüber Anfeindung und Spott als Geschehen
mit eigenem Sinn zu begreifen. Ob die in 1 Kor 11,23 als vorpaulinisches
Gut gekennzeichnete Abendmahlsüberlieferung 1 Kor 11,23-25 von Anfang
an Bestandteil dieser Passionserzählung war, läßt sich
damit nicht wirklich sichern. Weitere vorevangeliare Sammlungen von Jesusworten
und Jesuserzählungen sind möglich; man hat u.a. an eine Gleichnissammlung,
an eine Sammlung von Streitgesprächen um Mk 2,15-28* herum, aber
auch an eine oder zwei Sammlungen von Wundererzählungen und an eine
eigenständige vorlukanische Passionsqualle gedacht. Mit der relativen
Ausnahme der Logienquelle (s.u.) ist die Existenz dieser Sammlungen freilich
nicht wirklich zu sichern. |