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Lektion 9: Die Deuteropaulinen
Nicht
von Paulus und doch von Paulus?
Der zweite Thessalonicherbrief
Der Kolosserbrief
Der Epheserbrief
Die Pastoralbriefe
Exkurs: Gnosis
Nicht
von Paulus und doch von Paulus?
Bis zur Aufklärungzeit bestand in kirchlicher
Schriftauslegung quer durch die einzelnen Konfessionen das Corpus Paulinum
aus 13 oder 14 Schriften, je nach dem, ob man den Hebräerbrief als
Brief des Paulus ansah oder nicht. Heute gelten aus teilweise je unterschiedlichen
Gründen sechs der 13 im Neuen Testament auf Paulus zurückgeführten
Briefe zumeist als nicht von Paulus geschrieben: der zweite Brief an die
Thessalonicher, die Briefe an die Kolosser, Epheser, an Timotheus und
Titus. Ausschlaggebend sind u.a. Veränderungen in Sprache und Stil,
die sich nicht einfach als Altersstil des Apostels erklären lassn,
des weiteren Abweichungen in der vorausgesetzten kirchlichen Situation,
dann aber auch theologische Divergenzen: Die Legitimität des Heidenchristentums
steht nicht mehr zur Diskussion, sondern ist vorausgesetzt; der Ausbau
kirchlicher Strukturen ist vorangetrieben; historisch wie theologisch
ist in der Betonung der apostolischen Norm der Abstand der eigenen Zeit
zur Anfangszeit der Kirche reflektiert.
Der Rezeption einer solchen Rekonstruktion der urchristlichen Literaturgeschichte
stellen sich für den Nichtwissenschaftler zumeist Bedenken moralischer
Art entgegen: Sollte ein Autor mit der Zuschreibung seines Werkes an Paulus
gelogen haben und dennoch zu kanonischen Ehren gekommen sein? Wie steht
es mit der Gültigkeit des Gotteswortes?
Bedenken solcher Art ist mit der Reflexion auf das antike Phänomen
der sog. Pseudepigraphie zu begegnen.
Das Phänomen der Pseudepigraphie
Das Phänomen der Pseudepigraphie in christlicher
Literatur ist nicht ohne Verweis auf parallele Erscheinungen in der paganen
Antike wie vor allem im Judentum zu behandeln.
In pagan-antiker Literatur sind vor allem Texte aus Philosophenschulen
zu nennen, die man den jeweiligen Schulhäuptern zugeschrieben hat,
z.B. Heraklit, Platon, Epikur. Angehörige dieser Schulen stellten
ihre Aussagen unter die Autorität des Lehrers. Schon in der Antike
wurde historisch-kritisch die Frage nach Echtheit oder Unechtheit einzelner
Schriften bedacht (vgl. die Referate bei Diogenes Laertios, Leben und
Meinungen berühmter Philosophen 5,34; 6,80.100; 7,163; 8,7f.55-57.89;
9,49), wie später dann auch im Christentum (vgl. die Aussagen des
Dionysios von Alexandrien zur Johannesoffenbarung).
Die eigentlichen Wurzeln christlicher Pseudepigraphie sind aber in alttestamentlich-frühjüdischer
Literatur zu suchen. Das Phänomen der Pseudepigraphie ist freilich
nicht ohne Seitenblick auf zwei andere literaturgeschichtliche Phänomene
zu beschreiben, nämlich die Fortschreibung bereits bestehender Texte
und die Neuerzählung biblischer Stoffe.
Zum Phänomen der Fortschreibung vgl. innerbiblisch die Notiz Jer
36,32. Als Beispiel für eine solche Fortschreibung mag auch Jos 1,7f.
gelten: Jos 1,1-9 formuliert die göttliche Beistandszusage für
den Einzug ins Gelobte Land, dessen Grenzen in Jos 1,4 beschrieben werden,
als Erweis der Treue Gottes für Israel; in Jos 1,7f. hingegen ist
die Situation des Einzugs nicht mehr im Blick, wohl aber die sich auch
im Lande selbst stets wiederholende Situation der Neuübernahme eines
Amtes, angesichts dessen zur Orientierung am „Buch dieses Gesetzes“
(wohl am Deuteronomium) gemahnt wird.
Die Neuerzählung biblischer Stoffe in frühjüdischer Literatur
zielt nicht selten darauf ab, den verpflichtenden Charakter der Thora
zu betonen. Wird in Num 15,37-41 das Quastengebot vermittelt und in Num
16 von einem Aufstand der Rotte Korah gegen Mose erzählt, so läßt
der wohl nach 70 n. Chr. entstandene „Liber Antiquitatum Biblicarum“
in LAB 16 das Thema „Auflehnung gegen die politische Autorität
des Mose“ weg und behandelt Korah als einen, der sich gegen das
Quastengebot auflehnt. Politische Machtansprüche waren zu seiner
Zeit nicht zu diskutieren, wohl aber war der Gehorsam gegenüber dem
Gebot Gottes einzuschärfen. LAB 16 verzichtet auf die wörtliche
Wiedergabe von Num 16, sucht aber gerade dadurch die Aktualität der
biblischen Erzählungen Num 15; 16 einzuschärfen.
Das Phänomen der Pseudepigraphie beginnt im Alten Testament selbst.
Das Buch Deuteronomium, in Dtn 1,1 als „Worte Moses“ bezeichnet,
enthält bekanntlich Stoffe, die auch andernorts im Pentateuch begegnen
(vgl. z.B. die beiden Fassungen der „Zehn Gebote“ in Ex 20,1-17
mit Dtn 5,6-21). In nachalttestamentlicher Zeit entstanden weitere Gesetzeskorpora,
deren Text auf die Vermittlung an Mose zurückgeführt wurden
(z.B. 1Q22; 11QT 19, die sog. Tempelrolle), die innerhalb eines fortlaufenden
Textzusammenhanges biblische Stoffe teils dem Wortlaut des Pentateuchs
entsprechend wiedergaben, teils in Auslegung des Pentateuchtextes oder
in inhaltlicher Neuregelung formulierten.
Wurden Gesetzestexte auf Mose zurückgeführt, so stand der Name
Davids (vgl. 1 Sam 16,23) für die Neuproduktion von Psalmen (vgl.
den nichtkanonischen Psalm 151 LXX), der Name Salomos (vgl. 1 Kön
5,9-14) für die Neuproduktion von Weisheitsliteratur (u.a. die sog.
„Weisheit Salomos“), der Name Henoch (vgl. Gen 5,24) für
die Neuproduktion apokalyptischer Texte (Man könnte das sog. äthiopische
Henochbuch, dessen deutlich gegliederte Großabschnitte sich mehrfach
auch inhaltlich überschneiden, als den Versuch einer „Gesamtausgabe
der Werke Henochs bezeichnen“). Fortschreibung, Neuerzählung
und Pseudepigraphie dienen in alttestamentlich-frühjüdischer
Literatur letztlich der Aktualisierung der Traditionen Israels hin auf
die eigene Situation, die Aktualisierung kann Erweiterung und Neufestsetzung
des Wortlautes geradezu verlangen, während eine wörtliche Wiederholung
des bereits Gesagten den aktuellen Bezug vermissen lassen müsste.
Im Christentum umfaßt das Phänomen der Pseudepigraphie einen
begrenzten Zeitraum zwischen ca. 80 und 130 n. Chr.; in dessen zweiter
Hälfte sind aber bereits Tendenzen der Ablösung dieser Sorte
von Literaturproduktion sichtbar: Die römische Gemeinde schreibt
an die Gemeinde in Korinth den sog. Ersten Clemensbrief (Die Zuweisung
des Schreibens an Clemens ist erst bei Dionysios von Korinth [um 170 n.
Chr.; bei Euseb 4,23,11] erfolgt) im eigenen Namen; vielleicht schon um
110 n. Chr. schreibt Ignatius (die Datierung und Echtheit der sog. Ignatiusbriefe
ist wieder umstritten) in eigener Verantwortung, ebenfalls (um 130 n.
Chr.) Polykarp.
Christliche pseudepigraphe Schriften versuchen, unter Berufung auf eine
anerkannte Autorität ihre Maximen innerhalb der christlichen Kirche
zu verbreiten bzw. ihre Interpretation des Erbes dieser Autorität
gegen andere Interpretationen zu richten bzw. zu verteidigen.
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