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Lektion 9: Die Deuteropaulinen
Nicht
von Paulus und doch von Paulus?
Der zweite Thessalonicherbrief
Der Kolosserbrief
Der Epheserbrief
Die Pastoralbriefe
Exkurs: Gnosis
Die Pastoralbriefe
Gemeinsame Einleitung für die Pastoralbriefe
Die Bezeichnung „Pastoralbriefe“
Die Briefe an Timotheus und der Brief an Titus werden
gemeinhin als »Pastoralbriefe« bezeichnet, diese Bezeichnung
wurde durch Paul Anton, Exegetische Abhandlungen der Pastoralbriefe Pauli,
Halle 1753 geprägt, nachdem schon D. N. Berdot zunächst für
den Titusbrief die Bezeichnung „Epistula, quae Pastoralis est“
gebraucht hatte (Exercitatio theol.-exeget. in epistolam St. Pauli ad
Titum, Halle 1703, 3f.). Die Bezeichnung hält zutreffend die Konzentration
dieser Schreiben auf die Aufgaben der Gemeindeleiter fest.
Die Adressaten
Timotheus ist zweifellos einer der wichtigsten Mitarbeiter
des Paulus, von diesem hoch geschätzt (Phil 2,19-23). Nach Apg 16,1
ist er in Lystra als Sohn eines griechischen Vaters und einer jüdischen
Mutter aufgewachsen. Umstritten ist die Angabe Apg 16,3, Paulus habe Timotheus
»um der Juden willen« beschnitten (vgl. nämlich Gal 2,3).
Timotheus wird als Mitabsender zusammen mit Silvanus in 1 Th 1,1 erwähnt,
als alleiniger Mitabsender in den Präskripten des 2 Kor; Phlm; Phil.
Daraus geht seine Mitverantwortung für das paulinische Missionswerk
hervor.
Als Reisebegleiter des Paulus erwähnt (2 Kor 1.19; Apg 17,14f.; 18,5),
wird er von Paulus mehrfach als Verbindungsmann in seinem Auftrag zu den
Gemeinden geschickt, u.a. nach Thessaloniki (1 Th 3,2f.), nach Korinth
(1 Kor 4,17; 16,10), nach Mazedonien (Apg 19,22) und nach Philippi (Phil
2,19). Die Gemeinden werden ermahnt, Timotheus als bevollmächtigten
Stellvertreter des Apostels anzuerkennen. Timotheus läßt von
Korinth aus Grüße nach Rom bestellen (Röm 16,13), vielleicht,
weil er Paulus auch während der geplanten Romreise begleiten soll.
Sein Name erscheint auch in der Namensliste über die Jerusalemreise
Apg 20,4 erwähnt, er blieb wahrscheinlich ohne Unterbrechung bei
Paulus.
Titus war Heidenchrist der ersten Stunde in Antiochia; Paulus und Barnabas
nahmen ihn mit zum sog. Apostelkonzil nach Jerusalem, vermutlich als anschauliches
Beispiel für die geistliche Realität des Heidenchristentums
(Gal 2,3). Titus hat dann Paulus aber während der ersten Phase der
Ägäis-Mission (sog. 2. Missionsreise) nicht begleitet - er erscheint
auch nie in den Präskripten der echten Paulinen -, sondern vielleicht
den paulinischen Standpunkt der beschneidungsfreien Heidenmission in Antiochia
weiterhin zur Geltung zu bringen versucht. Von Paulus wurde er wohl in
sein Missionswerk berufen, als es um die Durchführung der Kollekte
für Jerusalem ging; alle Erwähnungen des Titus in 2 Kor stehen
damit in Zusammenhang (2 Kor 2,13; 7,6f.13-16; 8,6.16f.23; 12,18). Vielleicht
ist das Schweigen des Lukas in Apg über Titus damit in Zusammenhang
zu bringen; Lukas wußte von dem Scheitern der Kollekte. Im Zusammenhang
dieser Pläne fiel Titus wohl die undankbare Aufgabe zu, zwischen
den Korinthern und dem Apostel Paulus zu vermitteln; vermutlich hatte
Titus dabei Erfolg.
Die Verfasserfrage
Bedenken gegen die paulinische Verfasserschaft des
1 Tim haben zuerst Joh E. C. Schmidt, Einleitung I 1804 und Friedrich
Daniel Ernst Schleiermacher, Über den sogenannten ersten Brief des
Paulus an den Timotheus, 1807 erhoben; Johann Georg Eichhorn dehnte 1812
das Urteil der Unechtheit auf alle drei Pastoralbriefe aus. Ferdinand
Christian Baur hat 1835 auf den Zusammenhang der Briefe mit der antignostischen
Polemik des 2. Jhdt. n. Chr. verwiesen, Heinrich Julius Holtzmann 1880
den ersten großen wissenschaftlichen Kommentar auf der Basis dieses
Urteils verfaßt.
Argumente für die nachpaulinische Verfasserschaft aller drei Pastoralbriefe
sind begründet 1. in der Widersprüchlichkeit der Briefsituationen,
2. in Differenzen zwischen den Angaben der Briefe und anderen Quellen
zu Paulus, 3. in terminologischen und theologischen Differenzen.
Zu 1.:
Warum informiert Paulus seinen langjährigen
Mitarbeiter Timotheus noch einmal so ausführlich über dessen
Pflichten, wenn doch seine Abwesenheit als kurz dargestellt wird (3,14)
und auch keine Veränderung der gemeindlichen Situation zu erkennen
ist?
Warum bittet der Verfasser in 2 Tim 4,13 um die Nachsendung des vor Jahren
(!) in Troas liegengebliebenen Mantels und der Schriftrollen, wenn er
doch mit seinem nahen Tode rechnet?
Wird der in Ephesus tätige Timotheus von dem krankheitsbedingten
Aufenthalt des Trophimus in der nahegelegenen Stadt Milet erst auf dem
Umweg über Rom erfahren?
Zu 2.:
2 Tim 1,5 schildert Timotheus als Christen der
dritten Generation.
Er ist nach Apg 19,22 nicht in Ephesus geblieben (so 1 Tim 1,3), sondern
nach Mazedonien vorausgesandt.
Von einer Kreta-Mission des Paulus wissen wir sonst nichts.
Röm 15,23 schließt eine erneute, sowieso nur unter der fragwürdigen
Voraussetzung, daß Paulus von einer ersten Gefangenschaft in Rom
noch einmal freigekommen sei, mögliche Reise in den Osten des römischen
Reiches aus.
Zu 3.
Auffällig viele pln Hapaxlegomena (zweieinhalbmal
so viele als in den sonstigen Paulinen)
Differenzen in der theologischen Terminologie:
Zentrale paulinische Begriffe fehlen: Gerechtigkeit Gottes; Freiheit;
Kreuz; Offenbarung; Leib Christi.
Neu eingeführt werden hellenistische Begriffe in der Gottesauffassung
(Gott als »Heiland« 1 Tim 1,1; 2,3; 4,10, als »Glückseliger«
1 Tim 1,11; 6,15), der Christologie (»Epiphanie« für
die irdische Erscheinung Jesu Christi 2 Tim 1,10; Mittler zwischen Gott
und den Menschen 1 Tim 2,5), vor allem aber in der Beschreibung christlicher
Existenz und Lebenshaltung (Frömmigkeit 1 Tim 2,2; 4,7f.; 2 Tim 3,5;
gutes Gewissen 1 Tim 1,5; 3,9; gute Werke 1 Tim 2,10; Tit 2,14).
Der Begriff »Glaube« bezeichnet nur noch den Glaubensinhalt
oder die Zuverlässigkeit und Treue der Christen.
Der Begriff »Lehre« (didaskalia) wird zum Leitbegriff, verbunden
mit Attributen wie »gesund« (1 Tim 1,10; 2 Tim 4,3; Tit 1,9;
2,1); »gut« (1 Tim 4,6).
Die Berufung des Paulus ist Gnadenakt Gottes, der sich über den Sünder
erbarmt, der »in Unwissenheit und im Unglauben« (1 Tim 2,13)
die Gemeinde verfolgt hatte. Das hätte Paulus nicht von sich gesagt,
ebensowenig, daß er Gott diene »von meinen Voreltern her in
reinem Gewissen« (2 Tim 1,3).
Die Irrlehre wird nicht argumentativ beantwortet, sondern ausschließlich
polemisch bekämpft.
Die angeblich »unerfindbaren« persönlichen Notizen (2
Tim 4,13: Nachsendung des Mantels und der Schriftrollen) greifen literarische
Topoi auf und sind selbst Bestandteile eines Idealbildes des Apostels
(Der eine Mantel steht für die Bedürfnislosigkeit des Apostels,
die Schriftrollen repräsentieren seine Lebensarbeit als Wächter
über die heilige Überlieferung).
Motiv, Zeit und Ort der Abfassung
Motiviert ist die Abfassung dieser Texte durch eine
Krisensituation der paulinischen Gemeinden in Kleinasien, nämlich
durch das Aufbrechen einer Irrlehre im inneren der Gemeinden selbst (die
Gegner sind nicht von außen eingedrungen, vgl. die Aussagen z.B.
vom „Abfall“ des Hymenäus und Alexander in 1 Tim 1,19)
veranlaßt. Die Irrlehrer fordern die Enthaltung von der Ehe und
von bestimmten Speisen (1 Tim 4,3) und behaupten, die Auferstehung sei
schon geschehen (2 Tim 2,18). Der polemische Verweis auf ihren (angeblichen)
Selbstanspruch, Thoralehrer zu sein (1 Tim 1,7), und auf ihr Interesse
an Genealogien und mythologischen Spekulationen (1 Tim 1,4; 4,7; 2 Tim
4,4; Tit 1,14; 3,9) sollte nicht dazu führen, „die aus der
Beschneidung“ unter den Gegnern (Tit 1,10) den im Galaterbrief bekämpften
Judaisten anzunähern; in den Pastoralbriefen wird nirgends die Frage
nach der Thora als Heilsweg diskutiert; die Nahrungsaskese der Gegner
war ebenfalls nicht durch die levitischen Speisegesetze motiviert (höchstens
unter asketischer Umdeutung dieser Vorschriften legitimiert). Aufgrund
von 1 Tim 6,20 sieht man den Verfasser der Pastoralbriefe mit einer Frühform
christlicher Gnosis konfrontiert, die sich durch starkes Interesse an
dem in ihrem Sinne gedeuteten Alten Testament auszeichnet. Die großen
gnostischen Systeme des 2. Jahrhunderts sind aber noch nicht erkennbar,
auch ihr christologischer Doketismus ist noch nicht als Problem virulent.
Eine nähere Bestimmung der Irrlehre ist kaum möglich, und die
hier referierte Rekonstruktion ist nicht unbestritten geblieben.
Schon durch den Verweis auf den Glauben der Großmutter des Adressaten
(2 Tim 1,5) geben sich die Pastoralbriefe als ein Werk (mindestens) der
dritten Christengeneration zu erkennen. Allerdings sollte man die Pastoralbriefe
wiederum nicht zu spät ansetzen: Marcions Zweigötterlehre und
die ausgeführten gnostischen Systeme mit ihrem christologischen Dualismus
sind noch nicht im Blick. Im allgemeinen werden die Pastoralbriefe in
die Jahre um 100 n. Chr. datiert. Die beiden Briefe an Timotheus sind
nach Ephesus gerichtet, der Titusbrief nach Kreta, ohne daß uns
eine Kreta-Mission des Titus historisch greifbar ist. Der Ort der Abfassung
bleibt unbekannt.
Die Pastoralbriefe wurden möglicherweise bewußt als dreiteiliges
Briefcorpus der Neuedition des bisher bestehenden Corpus Paulinum beigestellt;
damit sollte Paulus als die bleibend verbindliche Autorität für
der Kirche benannt werden, zugleich beanspruchte der Verfasser der Pastoralbriefe
für sich, die authentische Interpretation der Verkündigung des
Völkerapostels für die gegenwärtige kirchliche Krisensituation
bereitzustellen. Historisch gesehen dürfte er nur einen Flügel
innerhalb der in verschiedene Richtungen zerfallenden Paulusschule repräsentieren,
vgl. die Briefe an die Kolosser und Epheser. Die Dreizahl der Briefe dürfte
in dem verschiedenen Charakter der beiden Timotheusbriefe ebenso begründet
sein wie in dem Wunsch, durch ein Schreiben an einen zweiten engen Mitarbeiter
des Apostels die einzelnen Mahnungen als geographisch umfassend und theologisch
grundsätzlich gültig erscheinen zu lassen.
Der Erste Timotheusbrief
Grobgliederung
1 Exordium
2 -3 Erster Hauptteil: Weisungen für das Leben der Gemeinde
4,1-6,2 Zweiter Hauptteil: Weisungen für die Amtsführung des
Timotheus
6,3-21 Schlußteil: Mahnung zur Treue zum empfangenen Auftrag
Feingliederung
1,1-20 Exordium
1,1-2 Präskript
In dem Begriff gnesios wird schon das Hauptanliegen des Briefes
intoniert: der rechte Glaube und die rechte Lebensführung, die „Timotheus“
bewähren und den ihm anvertrauten Gemeindegliedern lehrend vermitteln
soll.
1,3-11 Erneuerung des Auftrages an Timotheus: Die Abwehr falscher
Lehren
Zur Problematik der Bestimmung der Irrlehrer s.o. 1 Tim 1,5
bezeichnet das christliche Lebensideal in der Sicht der Pastoralbriefe.
1 Tim 1,8-11 verteidigt die pastoralpaulinische Theologie gegen den möglichen
Vorwurf der Mißachtung des Gesetzes. Zu 1,9 vgl. Gal 5,23.
1,12-17 Begründung der Autorität des Apostels in seiner
Berufung
Die Lebenswende des Paulus wird zum Urbild des Handelns Gottes
am heidnischen Menschen, darum wird nicht mehr des Paulus früherer
„Eifer für Gott“ und seine „Gerechtigkeit im Gesetz“
(Phil 3,6) betont, vielmehr seine Unwissenheit, d.h. die Tatsache, daß
er den wahren Gott nicht kennt (zu diesem Zusammenhang vgl. 1 Thess 4,5).
1,18-20 Verpflichtung des Timotheus auf seinen Auftrag
Um die Entscheidungssituation zu verdeutlichen, werden zwei
Repräsentanten des Abfalls vom Glauben genannt. An ein verantwortliches
Handeln der Gemeinde (vgl. 1 Kor 5,4f.) ist in 1 Tim 1,20 nicht mehr gedacht.
2,1-3,16 Erster Hauptteil: Weisungen für das Leben der Gemeinde
2,1-7 Das Gebet für alle Menschen
Die Bindung an den universalen Heilswillen Gottes verpflichtet
die Gemeinde zum Gebet für ale Menschen sowie zu einem Handeln, von
dem kein falscher, die Verbreitung des Evangeliums hindernder Anstoß
ausgeht. Der Heilswille Gottes hat sich durch die Mittlerschaft Jesu Christi
verwirklicht; der Apostel verkündet den Menschen diese Botschaft
und lehrt ihr richtiges Verständnis.
2,8-15 Das Verhalten von Männern und Frauen im Gottesdienst
Die Mahnung zur Zurückhaltung im äußeren Schmuck
(V. 9) ist ein Topos konservativer hellenistisch-römischer Ethik
auf, der vor allem in der frühen Kaiserzeit stark verbreitet war
(vgl. Plutarch, Coniug. Praec. 26, 141e; Epiktet, Ench 40), ist aber auch
im hellenistischen Judentum (Philo, Virt. 39f.; Migr. Abr. 97, Vit.Mos.
2,243) und im Christentum bekannt (vgl. 1 Petr 3,3f.).
In V. 10 ist die Außenwirkung des christlichen Gottesdienstes bedacht,
ebenso ein bestimmtes Bild einer christlichen Frau, von dem man sich positive
Außenwerbung erwartet.
Das Gebot des völligen Schweigens in V. 11 nimmt das Stichwort hesuychia
aus 1 Tim 2,2 auf, das dort für alle Christen, Männer wie Frauen,
ein unauffälliges Leben beschreibt; vgl. Platon, Men 71-73: Tugend
des Mannes ist es, den Staat zu verwalten, Tugend der Frau, das Haus zu
verwalten und dem Mann zu gehorchen; Aristoteles Pol. 1254b, 14f.: Auf
Grund der Natur ist das Männliche im Hinblick auf das Weibliche das
Bessere, jenes das Geringere, das eine ist das Beherrschende, das andere
das Beherrschte“; Josephus, contra Apionem 2, 201: „Die Frau,
sagt er (der Gesetzgeber Mose), ist geringer als der Mann in jeder Hinsicht.
Daher soll sie denn gehorchen, nicht zum Mutwillen, sondern damit sie
beherrscht werde. Gott hat nämlich dem Manne die Macht verliehen“.
Vgl. Gen 3,16.
Daß die Frau nicht lehren darf im Gottesdienst (V. 12; vgl. 1 Kor
14,34), wird in V. 13f. durch einen doppelten Rückgriff auf die Urgeschichte
begründet:
1. Adam wurde zuerst gebildet, dann Eva. Ist in der jahwistischen Schöpfungserzählung
eine positive Linie auf Eva angelegt - sie allein ist dem Adam ebenbürtig,
daher der Jubelruf Adams, als endlich ihm eine ebenbürtige Partnerin
ersteht -, so wird hier lediglich die Tatsache des literarischen bzw.
des zeitlichen Vorganges in ein Werturteil verwandelt. Zugrunde liegt
die Vorstellung: Das ältere ist auch das Höherrangige. Vgl.
Sifre Dtn 37 zu Dtn 11,10: Alles, was wertvoller ist, geht dem anderen
zeitlich voran. Vgl. ferner Platon, Resp. 412 c; Leg 11,917a. Doch ist
gerade in jüdischer Literatur die Geltung des Prinzips nicht unumstritten
(vgl. Max Küchler, Schweigen, Schmuck und Schleier 28).
2. Eva ist verführt worden. Die hebräischen und griechischen
Äquivalente für „Schlange“ sind Maskulina! Eva hat
durch Aktivität der als männlich gedachten Schlange ihre Unschuld
verloren. Nur insofern kann gesagt sein, daß Adam nicht verführt
wurde. Zu dieser sexualpessimistischen und frauenfeindlichen Exegese von
Gen 3 vgl. Sir 25,24; 4 Makk 18,7-9a; ApkMos 19.
3,1-13 Voraussetzungen für das Bischofsamt und das Diakonenamt
Die Abschnitte über den „Bischof“ und die „Diakone“
sind ein früher Beleg für die Entstehung des Monepiskopates,
der sich kirchengeschichtlich gesehen freilich regional unterschiedlich
schnell durchgesetzt hat. Die Kriterienkataloge benennen Eigenschaften,
die nicht nur aufgrund der u.a. in 1 Tim 4,13 genannten speziellen Aufgaben
des Leiters einer christlichen Gemeinde zu fordern sind: Wenn Pflichtenspiegel
für Feldherrn, Hebammen und Berufstänzer vergleichbare Tugenden
fordern, dann im Zuge der „Grundthese hellenistischer popluarphilosophischer
Ethik, daß jeder, gleich welchen Berufes oder Geschlechtes, tugendhaft
zu sein habe“ (J. Roloff, Der erste Brief an Timotheus, EKK 15,
Zürich, Neukirchen 1988, 150).
1 Tim 3,11 hat wohl nicht die Ehefrauen der Diakone, sondern Diakoninnen
vor Augen.
3,14-16 Grundsatzerklärung: Grund und Ziel der apostolischen
Weisung
Mit V. 14 sucht der Verfasser die vorangegangenen Weisungen
als das Vermächtnis des Apostels erscheinen zu lassen, der, wie die
Leser wissen, in Wahrheit nicht mehr zu Timotheus kommen konnte. Die Briefe
des Apostels überbrücken auch seine unwiderrufliche Abwesenheit.
Die Kirche als der endzeitliche Tempel Gottes ist Säule, d.h. hier
sichtbares Zeichen, und Fundament, d.h. unveränderbare Stätte
der Wahrheit, ähnlich wie sich die Qumransekte als „feste Gründung
in der Wahrheit“ (1QS VIII 5) und als „Gründung des heiligen
Geistes zu ewiger Wahrheit“ (1QS IX 3f.) versteht. Der nachfolgende
Christushymnus thematisiert die Verbindung zwischen irdischer und himmlischer
Welt anhand der entscheidenden Momente der als Epiphanie gedachten Inkarnation,
der universalen Verkündigung der Heilsbotschaft und der umfassenden
Durchsetzung der Macht Christi (nach J. Roloff, Der erste Brief an Timotheus,
210).
4,1-6,2 Zweiter Hauptteil: Weisungen für die Amtsführung
des Timotheus
4,1-11 Bekämpfung der Irrlehre
Zur Irrlehrerproblematik s. d. Einleitung. 1 Tim 4,4 läßt
die in Gen 1,31 wurzelnde theologische Grundlage der Bekämpfung einer
falsch verstandenen Askese erkennen.
4,12-6,2 Anordnungen für die Gemeindeleitung
4,12-5,2 Verhalten und Aufgaben des Gemeindeleiters
Der Apostelschüler wird an seine Ordination erinnert. Die
Ordination, in Analogie zur damaligen Praxis der Ordination jüdischer
Gelehrter zu verstehen und auf Num 11,24f.; 27,15-23; Dtn 34,9 basierend,
beinhaltet Beauftragung und Geistbegabung des Ordinanden sowie seine Verpflichtung
auf ein seine ganze Existenz umgreifendes Lebenszeugnis in Rückbindung
an das durch den Apostel ebenfalls im Wort- und Tatzeugnis repräsentierte
Eangelium. Genauere Aussagen zur Ordinationshandlung finden sich in den
Pastoralbriefen nicht im Zusammenhang; als Elemente sind zu nennen (mit
J. Roloff, Der erste Brief an Timotheus, 267f.) die Übergabe der
maßgeblichen Lehrtradition (2 Tim 2,2), das antwortende Bekenntnis
des Ordinanden (1 Tim 6,12), der verkündigende Zuspruch (1 Tim 4,14)
sowie die wohl unter Schweigen vollzogene Handauflegung (1 Tim 4,14; 2
Tim 1,6) als zentraler Ritus der Geistmitteiliung.
Nur scheinbar ist es ein Widerspruch, wenn in 1 Tim 4,14 die Ordination
durch das Presbyterkollegium, in 2 Tim 1,6 an Timotehus durch „Paulus“,
in 1 Thess 5,22 an den neu einzusetzenden Ältesten durch Timotheus
vollzogen wird: Die Fiktionalität des Absenders wie des Adressaten
ist ebenso zu bedenken wie die Konzentration des 2. Timotheusbriefes auf
das sachlich begründete, aber persönlich verpflichtende Verhältnis
des Apostels zu seinem Schüler. Die kirchliche Praxis zur Zeit der
Pastoralbriefe ist in 1 Tim 4,14, der inhaltliche Maßstab jeder
legitimen Übertragung eines gemeindeleitenden Amtes in 2 Tim 1,6
benannt.
5,3-16 Neuordnung des gemeindlichen Witwenstandes
Das sich entwickelnde Christentum verdankte einen Teil seiner
Attraktivität wohl auch der Bereitschaft seiner Mitglieder zu freiwilligem
partiellen Besitzverzicht zugunsten der Armen, ähnlich wie das frühe
Judentum in der Fürsorge für Arme und Witwen eine zentrale ethische
Forderung gegeben sah (vgl. Hi 31,16; Tob 1,7).
In den Gemeinden, die dem Verfasser der Pastoralbriefe vor Augen standen,
war die regelmäßige finanzielle Unterstützung einer Witwe
vermutlich daran geknüpft, daß sich die Witwe ihrerseits (in
einem liturgischen Akt?, vgl. V. 12) zum stellvertretenden Gebetsdienst
verpflichtete, vielleicht auch zu karitativer Tätigkeit in der Gemeinde
(V. 13 ist dessen Karikatur!). Der Verfasser der Pastoralbriefe will den
Kreis der von der Gemeinde unterstützten Witwen restriktiv eingrenzen
(V. 9f.), allein schon durch die Altersgrenze: Das Lebensalter von 60
Jahren galt in der Antike als Beginn des Greisenalters. Ausschlaggebend
für die restriktive Haltung war wohl nicht nur die Frage der finanziellen
Belastungen für die Gemeinde (V. 16), sondern eher die Befürchtung,
daß sich mit dem Witwenstand eine Struktur innerhalb der Gemeinde
herausbildet, die in Spannung steht zu der Alleinverantwortlichkeit des
Gemeindeleiters. Daß manche Frauen nicht bei der Aufgabe des Gebetes
in Einsamkeit (V. 5) bleiben, sondern nach V. 13 reden, „was sich
nicht ziemt“, stellt sie in der Sicht des Verfassers auf eine Stufe
mit Irrlehrern (vgl. Tit 1,11). Ob diese Frauen tatsächlich im Sinne
etwa gnostischer Verkündigung Einfluß nahmen oder wenigstens
durch ihre dem Gebet und der sexuellen Askese gewidmeten Lebensform die
Akzeptanz asketischen Pneumatikertums in der Gemeinde förderten,
bleibt historisch fraglich.
Witwen sollen prinzipiell zunächst durch die eigenen Familienangehörigen
versorgt werden. Wenn dies nicht möglich ist, kann die Gemeinde unter
bestimmten Bedingungen (V. 9f.) Unterstützung leisten. Junge Witwen
sollen wieder heiraten und sich damit auch wieder in die Ordnung eines
antiken „Hauses“ einfügen. In späterer christlicher
Literatur wird die Wiederheirat hingegen abqualifiziert.
5,17-25 Neuordnung des Ältestenamtes
Zum Schutze derer, die ihr Amt als Älteste gut ausüben,
werden die Möglichkeiten der Anklage gegen sie an strengere Regeln
gebunden, umgekehrt werden „Sünder“ öffentlich als
solche überführt; Regelungen wie in Mt 18,15-17 sind nicht expliziert.
Zu möglichen „Sünden“ der Ältesten vgl. EpPolyk
11 (Geldgier).
Die Anordnung innerhalb von V. 23-25 ist auf den ersten Blick erstaunlich.
V. 24f. gehört sachlich zu V. 21.22a; V. 23 verhilft zum richtigen
Verständnis der Mahnung von V. 22b: Die dort geforderte Reinhaltung
ist nicht einfach mit asketischer Praxis gleichzusetzen.
6,1-2 Standespflichten christlicher Sklaven
Zu beachten ist die Motivation der Begründung 6,1b (vgl.
dazu bereits Röm 14,16, im Bereich der Pastoralbriefe Tit 2,5.8),
deren Umsetzung heute i.w. eine andere inhaltliche Ausführung der
Bestimmungen 6,1a; 1 Tim 2,8-15 verlangt.
6,3-21 Schlußteil: Mahnung zur Treue zum empfangenen Auftrag
6,3-10 Gewinnsucht als falsche Motivation der Irrlehrer
Ein Vorwurf wie 6,5 begegnet fast überall in der Ketzerpolemik
und ist deshalb nicht unbedingt aussagekräftig für die konkrete
gegnerische Praxis. Es könnten freilich V. 6-8.9f. nahelegen, daß
1 Tim 6,5 nicht bloße Polemik ist. Zum Motiv der „Autarkie“
vgl. bereits Phil 4,11.
6,11-16 Ordinationsbekenntnis als tragende Motivation für
den Auftrag
Der angeredete Apostelschüler soll sich auch in seiner
gelebten Ethik von den Irrlehrern unterscheiden. Jesus Christus erscheint
als der urbildhaft Bekennende (in seinem furchtlosen Eintreten für
Gott und in seiner Leidensbereitschaft) wie als der Inhalt des Bekenntnisses.
Der Ausblick auf die kommende Epiphanie Christi definiert Zeit und Ort
des Amtsauftrages: Dieser „steht im Dienst der heilvollen Gegenwart
des Evangeliums in der Welt“ (J. Roloff, Der erste Brief an Timotheus,
358) zwischen Inkarnation und Parusie, also zwischen der ersten und der
zweiten Epiphanie Christi. Die Betonung der weltüberlegenen Transzendenz
Gottes und seiner Unsterblichkeit will den verpflichtenden Charakter der
Mahnungen ebenso unterstreichen wie sie den Apostelschüler der Realität
und Bedeutsamkeit der von ihm auszurichtenden Botschaft zu vergewissern
vermag.
6,17-19 Mahnung an die Reichen der Gemeinde
Die Anordnung dieses Stückes im Gesamtkontext läßt
sich vielleicht damit erklären, daß hier das in V. 9 genannten
Verhaltens verallgemeinert werden soll, das in 6,5 vornehmlich von den
Irrlehrern ausgesagt ist. Kennzeichnend ist, daß sowohl psychologisch
mit der Unsicherheit des Reichtums als auch theologisch mit dem Jüngsten
Gericht argumentiert werden kann.
6,20-21a Zusammenfassende Mahnung
Die Aufforderung „Bewahre, was dir anvertraut ist,“
bringt das sachlcihe Verhältnis zwischen Apostel und Apostelschüler
und damit die Verbindlichkeit der apostolischen Norm kürzestmöglich
zum Ausdruck. Zur „Gnosis“ s.u. den Exkurs.
6,21b Schlußgruß
Der zweite Timotheusbrief
Der Brief ist als Testament des dem Märtyrertod entgegengehenden
(2 Tim 4,6-8) Apostels gestaltet. Die Möglichkeit, daß der
Apostel noch einmal zu Timotheus kommen könnte (vgl.1 Tim 3,14; 4,13),
ist nicht mehr im Blick, im Gegenteil (2 Tim 4,9) - so soll den Worten
letzte Ernsthaftigkeit verliehen werden. In der Brieffiktion ist die Gemeinde
hineingenommen in das besondere Vertrauensverhältnis des Apostels
zu seinem engsten Mitarbeiter und weiß so das, was Paulus „wirklich“
gesagt hat. Dieses Wissen um den „authentischen“ Paulus schließt
die Verpflichtung auf die Einhaltung eben dieser Lehrtradition ein.
1,1-2 Präskript
Die „Verheißung“ des Lebens weist auf 2 Tim
4,6-8 voraus, das wiederum, im Briefganzen gesehen, zur Orientierung an
Paulus als Vorbild auch an seiner Leidensbereitschaft ermahnen will.
1,3-5 Prömium
Bemerkenswert ist, daß hier schon eine Weitergabe christlicher
Tradition in der Familie thematisiert ist (vgl. auch 2 Tim 3,15: „von
Kind auf“). Der Segen der Tradition wird betont, das Christentum
ist nicht mehr das große neue Ereignis und Erlebnis (vgl. 2 Kor
5,17b), sondern das bewährte Alte.
1,6-14 Aufforderung zum entschlossenen Zeugnis.
Die soteriologische Zentralaussage 2 Tim 1,9f. enthält
als ein wesentliches Element des altkirchlichen sola gratia die Gegenüberstellung
göttlichen Handelns und fehlender menschlicher Voraussetzungen (das
Unvorhergesehene und Unvorhersehbare der eigenen Hinwendung zum Christentum
wird positiv gedeutet), sodann als wesentliches Element des sog. Revelationsschemas
den Gegensatz zwischen dem in der Ewigkeit Gottes beginnenden, bislang
aber verborgen gebliebenen Heilsratschlusses Gottes und seiner nunmehr
erfolgten Offenbarung.
Paulus (V. 11-14) ist dessen Prediger, Apostel, Lehrer - letzteres ist
für die Pastoralbriefe das Wichtigste. Paulus als Träger und
autorisierter Tradent der maßgeblichen Überlieferung hat eine
Norm gesetzt, die für die nachfolgenden Gemeindeleiter verpflichtend
ist.
1,15-18 Untreue und Treue anderer bekannter Christen
Genannt sind zwei negative und ein positives Beispiel dafür,
was es heißt, sich der Gefangenschaft des Apostel nicht zu schämen
(2 Tim 1,8). In der demonstrativen Gegenüberstellung von Versagen
und Bewährung sollen sich die Leser angesprochen wissen.
2,1-13 Aufforderung zur Leidensbereitschaft
2 Tim 2,2 spielt („vor vielen Zeugen“) wiederum
auf die Ordination an, die auch als Verpflichtung des Gemeindeleiters
auf die apostolische Überlieferung verstanden wird; der angeredete
„Timotheus“ soll seinerseits nach zuverlässigen Menschen
(zuverlässig im Sinne des Festhaltens an der apostolischen Norm)
Ausschau halten, die geeignet sind, andere zu lehren.
Die Präexistenzaussage fehlt, weil eine Antwort auf eine negativ
getönte Kosmologie in den Pastoralbriefen dank ihrer eingeschränkt
positiven Sicht der Welt als Schöpfung nicht erforderlich ist. -
Der Verweis auf die Abstammung Jesu aus Davids Samen soll wohl Jesu menschliche
Herkunft bezeugen.
Die Verkündigungsarbeit geschieht „für die Auserwählten,
damit auch sie die Rettung erlangen“. 2 Tim 2,10 ist, illustriert
an dem Vorbild des Apostels, Mahnung an diejenigen, die mit der Verkündigung
des Evangeliums betraut sind, nicht von sich aus als Lehrsatz zum Verhältnis
zwischen göttlicher Prädestination und menschlicher Aktivität
intendiert.
V. 11-13 wollen die Gewißheit der ewigen Herrlichkeit bezeugen.
2,14-26 Mahnung, die eigene Lebensführung betreffend, und
Warnung vor Irrlehrern
Der Verfasser mahnt zum Verzicht auf argumentative Widerlegung
der Irrlehre (V. 14) und befolgt diese Mahnung auch selbst (vgl. V.18).
Vom Gemeindeleiter ist die Bindung an die apostolische Tradition ebenso
gefordert (V. 15) wie die persönliche Integrität, die sich dafür
offenhalten soll, daß durch Sanftmut die Irrenden wieder zurückgewonnen
werden können (V. 25f.; vgl. Tit 3,10: „wenn er einmal und
noch einmal gemahnt ist“).
3,1-9 Von der Sittenverderbnis der letzten Tage
2 Tim 3,1-9; 4,3f. greifen Motive aus der frühjüdischen
Gattung der Testamentenliteratur auf: die Ansage von Irrlehre und Verderbnis
in der Zeit nach dem Hinscheiden des Apostels (vgl. auch Apg 20,29f.).
Die Zustände der eigenen Zeit erscheinen als vom Apostel vorausgesehen
und insofern nicht überraschend.
Werden V. 6-9 gerade Frauen als besonders gefährdet angesehen? Einerseits
mag hier androzentrische Perspektive vorliegen, andererseits ist zu bedenken,
daß Frauen 1. überhaupt eher als ihre Männer für
die neue Lehre als erste zu gewinnen waren (vorausgesetzt ist das auch
in 1 Pt 3,1f.), 2. in Gemeinden außerhalb der werdenden Großkirche
wohl eher Führungspositionen einnehmen konnten.
3,10-13 Glaube lebt in der Verfolgung
Der dem rechten Glauben verpflichtete Gemeindeleiter ist in
seinem Leben und Verhalten Vorbild für die Gläubigen. Erstaunlich
ist, daß mit den Orten Antiochia, Lystra, Derbe nur drei der vielen
Stationen des Leidensweges genannt werden. Die Stationen können sich
der Kenntnis der Apostelgeschichte verdanken oder auch der mündlichen
Tradition: Timotheus ist nach der Darstellung der Apostelgeschichte erst
nach den in Apg 13; 14 berichteten Ereignissen zu Paulus gestoßen
(vgl. Apg 16,1-3).
3,14-17 Glaube lebt aus der Schrift
Die „Heiligen Schriften“ (gemeint sind die Bücher
des Alten Testamentes) fungieren nicht wie bei Paulus als Zeuge der Gerechtigkeit
aus dem Glauben oder wie in 1 Pt 1,10-12 als Verheißung auf Christus
hin, sondern lehren, das Richtige zu tun, sie sind Zeugen des christlichen
Lebensideals, wie es die Pastoralbriefe schildern.
4,1-5 Aufforderung an den Adressaten zur Treue zu seinem Auftrag
Die Mahnung erfolgt angesichts der Bedrohung durch die Irrlehre
mit Hinblick auf den zu erwartenden Tod des Apostels, dessen Erbe es an
die nachfolgenden Generationen zu vermitteln gilt. Der Halbsatz „zu
richten die Lebenden und die Toten“ (2 Tim 4,1) ist in das apostolische
Glaubensbekenntnis eingegangen ebenso wie in das Nicaeno-Constantinopolitanum
vom Jahre 381.
4,6-8 Die eschatologische Erwartung des Verfassers für sich
selbst.
Der Abschnitt begründet die Notwendigkeit der in 2 Tim
4,1-5 geforderten Treue des Adressatenzu seinem Dienst - der Apostel wird
bald nicht mehr da sein -, und soll wiederum zur Leidensbereitschaft motivieren.
Zum Martyrium des Paulus in Rom vgl. Apg 20,17-38, bes. 20,25; Apg 21,10-14;
1. Clem 5,5-7.
4,9-18 Der Apostel und seine Mitarbeiter.
Der eine Mantel steht für die Bedürfnislosigkeit des
Apostels, die Schriftrollen repräsentieren seine Lebensarbeit als
Wächter über die heilige Überlieferung.
4,19-22 Grüße und Gnadenwunsch.
Umstritten ist, ob der in V. 21 genannte Linus später in
der römischen Gemeinde tatsächlich eine führende Rolle
gespielt hat (so Irenäus, adv haer III 3,3; Euseb, h.e. V 6,1f.).
Der Titusbrief
1,1-4 Präskript
Wegen der Hoffnung auf das ewige Leben (Tit 1,2; vgl. Tit 3,7; zur Bezeichnung
der Auferstehungserwartung als „Hoffnung“ vgl. schon 1 Thess
4,13) mußten sich die Christen später oft verteidigen (Theophilos,
ad Autolycon 1,13; Tertullian, Apologeticum 47,12). - In dem Begriff gnesios
wird schon das Hauptanliegen des Briefes intoniert: der rechte Glaube
und die rechte Lebensführung, die „Titus“ bewähren
und den ihm anvertrauten Gemeindegliedern lehrend vermitteln soll.
1,5-16 der Anlaß des Schreibens: Qualifikationen und Aufgaben
der Gemeindeleiter
zu Tit 1,6-9 vgl. 1 Tim 3,1-7. Daß in Tit 1,5 „Älteste“
genannt werden, der folgende Qualifikationskatalog sich jedoch auf „Aufseher“
bezieht, deutet auf die Verschmelzung der nach jüdischem Vorbild
gestalteten Presbyterialverfassung mit der wohl griechisch-römischem
Vereinsrecht nachgeahmten Episkopalverfassung hin. Nach Tit 1,9 ist die
Aufgabe dieser Gemeindeleiter auch die Sorge um die rechte Verkündigung.
1,10-16 Irrlehrerpolemik.
Der Abschnitt enthält Motive üblicher Irrlehrerpolemik:
Den Gegnern wird fehlende Bereitschaft zur Unterordnung (Tit 1,10) sowie
Gewinnsucht (Tit 1,11) unterstellt, ihre Verkündigung wird als „leeres
Gerede“ (Tit 1,10) beschimpft, ihr Verhalten als Unfähigkeit
zu jedem guten Werk gebrandmarkt (Tit 1,16). Konkrete Information bieten
nur Tit 1,10 (einige der Gegner sind Judenchristen), Tit 1,14 (die geistige
Grundlage der gegnerischen Verkündigung entstammt jüdischer
Tradition, ist aber offensichtlich nicht unmittelbar der Heiligen Schrift
entlehnt) und Tit 1,15 (strittig ist, inwieweit christliche Gemeinden
jüdische Reinheitsvorstellungen als für sich bindend anerkennen
sollen).
2,1-10 Das Verhalten der einzelnen Gemeindeglieder
Die Anforderungen an die Gemeindeglieder werden alters-, geschlechts-
und schichtenspezifisch differenziert und haben insgesamt ein Leben in
Mäßigung zum Ziel. Tit 2,5.8 zeigen den Hintergrund der Ermahnung
auf: Nichtchristen soll kein Anlaß der Kritik an den Christen geboten
werden, als führe das Christentum zur Rechtfertigung lasziver Lebensweise
und zur Auflösung sozialer Ordnungen (Unterordnung der Frau und der
Sklaven).
2,11-14 soteriologische Begründung
In der Betonung tugendhaften Lebens und der Absage an die weltliche
Begierde kommt das Christentum im Ergebnis einer durch allgemeine philosophische
Ideale geprägten Lebensweise nahe, wenngleich die Begründung
differiert: Sie ist nach Tit 2,14 in dem erwählenden Handeln Gottes
gegeben. Die „Reinigung“ grenzt ebenso wie der Begriff „Eigentumsvolk“
die Christen von den Heiden ab, wie schon Israel sich von den Heiden dank
der Erwählung Gottes unterschieden wußte.
Tit 2,11-14 und Tit 3,4-7 kennzeichnet eine ähnliche Struktur: „es
ist erschienen ... damit“. In Tit 2,11-14 wird das Gewicht auf die
Folgen im Leben der Christinnen und Christen, in Tit 3,4-7 auf die Begründung
der Heilsvermittlung gelegt. Beide Stellen zusammengenommen sind typisch
für das altkirchliche sola gratia: Es ist Gnade, daß Gott einen
auf den rechten Weg bringt. Erwartet werden gute Werke, und daran, daß
sie geschehen, hat man nicht nur bei der christlichen Religion die Frage
nach ihrer Legitimation geknüpft: Nach Diodorus Siculus 5,49,6 hat
man den Teilnehmern an den Demeter-Mysterien in Samothrake ein Zunehmen
in den Tugenden der Frömmigkeit und Gerechtigkeit und eine allgemeine
Hebung ihres sittlichen Standards nachgerühmt. Das Urteil über
die Christen war zwiespältig: Einerseits warf man ihnen Kindermord
und orgiastische Mahlzeiten vor, andererseits hat man das Faktum (nicht
seine Begründung) anerkannt, daß auch Christen der Tugend gemäß
leben können (vgl. Justin, apol. II,9,1).
3,1-7 Die Bekehrung zum Christentum und ihre Folgen
Genannt werden in Tit 3,1-2 Verhaltensweisen, die das Verhältnis
der Christen zu ihrer nichtchristlichen Umgebung betreffen. Die Wendung
„zu allen Menschen“ von Tit 3,2 thematisiert die zusammen
mit 1 Tim 2,4 die Zuwendung Gottes an alle Menschen in Form des Verhaltens
der Christen. In Tit 3,3 wird an die heidnische Vergangenheit erinnert,
um die in Tit 3,1-2 geforderte völlige Kehrtwende einzuschärfen.
Diese Rückerinnerung Tit 3,3 motiviert die grundsätzliche soteriologische
Ausführung Tit 3,4-7. Daß man auf den richtigen Lebensweg gestellt
wird, gilt als Ergebnis der Barmherzigkeit und Menschenfreundlichkeit
Gottes, nicht der eigenen vorausgegangenen sittlichen Qualifikation. Die
Taufe ist Fundament und Beginn eines Lebens in Frömmigkeit nach den
Maßstäben apostolischer Tradition (Tit 2,1-10; 3,1-2), deren
rechtes Verständnis der Heilige Geist erschließt.
3,8-11 Briefkorpusabschluß
Zu den guten Werken Tit 3,8 vgl. schon Tit 2,14. Sie sind nicht
nur äußerliches Kennzeichen, sondern Zweckbestimmung unserer
christlichen Existenz. 3,8b überbietet positiv, was 2,5-8 negativ
ausgedrückt ist.
Den Gegnern fehlen nach Tit 1,16 solche Werke, sie sind dazu unfähig.
Der polemische Charakter von 1,16 verbietet eine konkretisierende Beschreibung
des angeblichen Fehlverhaltens.
3,12-15 Briefschluß
Theologische Grundgedanken der Pastoralbriefe
Es gilt, die Pastoralbriefe nicht einseitig und vordergründig an
Paulus zu messen und von ihm her abzuwerten, sondern ihre Intention wahrzunehmen,
in einer Krise des Paulinismus das rechte Verständnis der Verkündigung
des Apostels gedanklich zu formulieren und als apostolische Norm auch
institutionell in den Gemeinden zu verankern. Ferner ist es als Leistung
zu würdigen, daß der Verfasser der Pastoralbriefe im Hinblick
auf die Situation seiner heidenchristlichen Gemeinden der dritten Generation
die Soteriologie, die Ekklesiologie und die Ethik konsequent auf heidenchristlichen
Verstehenskontext hin formuliert.
Soteriologie
Der Mensch vor der Epiphanie Christi
Das Leben des vorchristlichen Menschen wird in der Rückschau
mit Hilfe jüdischer wie hellenistischer Beurteilungskategorien als
vergleichbar der Lebensweise eines unreflektiert lebenden Heiden beschrieben.
Er ist Sünder (1 Tim 1,15), gottlos (Tit 2,12) und ungehorsam, er
lebt gesetzwidrig (2,14) und überschreitet in Hybris (die Ursünde
des Menschen nach pagan-antiker Auffassung schlechthin) die ihm von Gott
gesetzten Grenzen (1 Tim 1,13); er ist unverständig, lebt in Schlechtigkeit
und Neid und im Haß gegen andere. Die freiwillige Wahl falscher
Güter, u.a. des Reichtums, führt dazu, daß der Mensch
sich Versuchungen aussetzt, die er nicht besteht, und sich Begierden und
Lüsten anheimgibt, deren er nicht mehr Herr wird. So wird der Mensch
von den Begierden getrieben (2 Tim 3,6) und wird ihr Knecht (Tit 3,3);
er verfällt dem Verderben und kann sich aus eigener Kraft nicht mehr
aus seinem Zustand befreien.
In dieser Beschreibung des Menschen sind Wandlungen gegenüber den
originalen Paulusbriefen mitgesetzt, bedingt durch eine rein heidenchristliche
Adressatenschaft (das nicht an Jesus glaubende Israel kommt nicht in den
Blick) und durch eine darauf Bezug nehmende theologische Konzeption.
Der Gedanke der Sünde als transsubjektiver versklavender Unheilsmacht
fehlt, denn der Mensch verwirklicht von sich aus das Sünder-Sein.
Die pluralische Redeweise von den Sünden und Begierden ist nicht
als Abschwächung des Gedankens der Sünde als der versklavenden
Unheilsmacht zu verstehen, sondern soll ihrerseits die in jeder Beziehung
vorhandene Gefährdung des Menschen zum Ausdruck bringen. Als Heidenchristen
mußten die Adressaten der Pastoralbriefe nicht wie die Judenchristen
in Rom ihr Traditionsgut neu verstehen lernen, sondern überhaupt
erst einmal Weisung für ihr Leben bekommen - so fehlt zwangsläufig
der paulinische Gedanke der Freiheit vom Gesetz. Ferner hätte der
Gedanke, mit dem Gebot würde in mir die Sünde lebendig, den
ernsthaften Menschen unter den Heiden nur die mangelnde Leistungskraft
der christlichen Religion vor Augen geführt. Die Vorstellung von
der Epiphanie Gottes, seines helfenden Eingreifens als erziehender Gnade
läßt es ebenfalls nicht zu, Gott selbst als den zu denken,
der den Menschen an sein eigenes sündiges Tun dahingibt (Röm
1,18.24.26.28). Insgesamt wird die Situation des vorchristlichen Menschen
nicht wie bei Paulus als forensische Situation gezeichnet, in der schon
der vorchristliche Mensch dem fordernden Gott gegenübersteht, sondern
überhaupt als die Situation des völlig-ohne-Gott-Seins, der
Orientierungslosigkeit.
Die Epiphanie Christi als sichtbares Zeichen des universalen Heilswillens
Gottes
Gott will, daß alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis
der Wahrheit kommen (1 Tim 2,4). Funktional ist dem das Christusereignis
zugeordnet. Der Kreuzestod Christi ist Sühne für die Sünden
des Menschen in seiner vorchristlichen Zeit (1 Tim 2,6). Unterhalb der
Ebene dieser Zweiteilung der Geschichte (vor / nach der ersten Epiphanie
Christi) wird nicht weiter differenziert, auch hinsichtlich Israels nicht.
Die Rettungstat Gottes ist Erlösung weg von aller Orientierungslosigkeit
des vorchristlichen Menschen, sie besteht in der Erziehung, die Epiphanie
Jesu Christi ist erziehende Gnade (Tit 2,12). Sie ist Gnade, weil sie
dem Menschen zuteil wird, der von sich aus keine Voraussetzungen vorweisen
kann, die ihn zu ihrem Empfang qualifizieren (Tit 3,3), sie ist Erziehung,
weil sie den Menschen zu einem Leben gemäß der Tugend anleitet
(Tit 2,12). Daß diese erziehende Rettungstat an das Christusereignis
zurückgebunden ist, verdankt sich der gemeinchristlichen Erfahrung
der Bekehrung als eines kontingenten Widerfahrnisses, d.h. der Erfahrung,
den Weg der Wahrheit nicht aus eigener Kraft und Einsicht gefunden zu
haben.
Die Taufe
Das gesamte Geschehen von dem Hören der Botschaft in der Missionsverkündigung
oder der christlichen Erziehung über den Entschluß, sich taufen
zu lassen, bis zum Vollzug der Taufe selbst wird als rettendes Handeln
durch Gott begriffen. Die Taufe ist Fundament und Beginn eines Lebens
in Frömmigkeit; an die Vermittlung ekstatischer Erlebnisse ist den
Pastoralbriefen nicht gedacht.
Es ist an mehreren Stellen umstritten, ob der „Geist“ nur
als Geist des Amtsträgers gedacht ist oder als Gabe für jeden
Christen. Auch wenn man letzteres favorisiert, wird deutlich: Die Erschließungsfunktion
des Heiligen Geistes wird in 2 Tim 1,14 in bewußter Reduktion gegenüber
1 Kor 2,10 auf das christliche Lebensideal gemäß apostolischer
Norm, d.h. gemäß den Vorstellungen der Pastoralbriefe bezogen.
Der Mensch unter der Epiphanie Christi
Nach Tit 2,11-14 lebt der Christ in einem durch das erschienene
Heil qualifizierten Stand unter den Bedingungen dieses Äons und in
Abgrenzung zu ihm, in Erwartung der endgültigen Selbstdurchsetzung
der heilvollen göttlichen Universalherrschaft; die Aufgabe des Christen
ist es, der Erwählung der Christengemeinde als Eigentumsvolk Gottes
zu entsprechen. Christliches Leben ist Leben angesichts der bleibenden
Gegenwart des Evangeliums; das Selbst des Christen wird als Subjekt der
durch die Gnade Gottes ermöglichten tugendhaften Lebensvollzüge
begriffen. Wie die Vorstellung vom Heiligen Geist in den Gläubigen
(s.o.) ist auch die Lehre von der Heiligen Schrift auf dieses Ideal christlichen
Lebens hingeordnet. Nach 2 Tim 3,16f. ist die Schrift nütze zur Belehrung,
zum Aufweis von Schuld, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit,
daß ein Mensch Gottes sei vollkommen, zu allem guten Werk tüchtig.
Die Heilige Schrift incl. der Thora fungiert nicht wie bei Paulus als
Zeuge der Gerechtigkeit aus dem Glauben oder wie in 1 Pt 1,10-12 als Verheißung
auf Christus hin, sie will aber erst recht nicht im Sinne „unnützer
Mythen und Genealogien“ verstanden werden, sondern lehrt, das Richtige
zu tun, sie ist Zeuge des christlichen Lebensideals, wie es die Pastoralbriefe
schildern, und sie formiert zugleich das Daseins- und Handlungsverständnis,
das den Verfasser der Pastoralbriefe zur Abgrenzung von der gegnerischen
Lehre führt.
Ekklesiologie
Eine starke Konzentration auf die gemeindeleitenden Ämter ist unverkennbar,
daß „jeder Christ ein Charismatiker“ ist (E. Käsemann),
fehlt terminologisch wie sachlich. Andere Dienste neben dem Episkopos
dem Diakon und den Ältesten werden nicht erwähnt. Lehrtätigkeit
von Frauen in der Gemeindeöffentlichkeit wird unterbunden; restriktive
Maßnahmen sollen den Stand der Witwen in seinem Einfluß auf
die Gesamtgemeinde einschränken.
Der Apostel ist selbst Urbild des zum Glauben kommenden Heiden (1 Tim
1,12-18) - darum kann seine ganzheitliche Lebensbindung an das Evangelium
zur verpflichtenden Norm des Apostelschülers und letztlich allgemein
des Christen gemacht, er als Lehrer der Heiden bezeichnet werden (1 Tim
2,7).
Er setzt die bleibend gültige Norm (2 Tim 1,8), an die sich der Apostelschüler
halten soll (1 Tim 6,20; 2 Tim 1,13), und formuliert, was der Empfänger
seiner Worte angesichts der Irrlehre zu verkündigen bzw. mit seinem
eigenen Verhalten modellhaft vorzuleben hat (vgl. den Zusammenhang von
1 Tim 4,6 mit 1 Tim 4,1-5).
Er kann dem Apostelschüler befehlen (1 Tim 4,11; 6,3.13 u.ö.)
und - auf der Ebene der Brieffiktion - mit dessen Hilfe verbindliche Weisungen
für die Gemeinden durchsetzen (1 Tim 2,1.8; 5,3 u.ö.) und -
wenigstens in der Brieffiktion - Urteile über abgefallene Gemeindeglieder
fällen (1 Tim 1,18). Auch seine Leidensexistenz um des Evangeliums
willen (2 Tim 2,9f.; 3,10-13) macht er dem Apostelschüler verbindlich
(2 Tim 2,3).
Der angeredete Apostelschüler ist Knecht des Herrn (2 Tim 2,4). Sein
Dienst (2 Tim 4,5) besteht ähnlich wie der „Dienst“ des
Apostels (1 Tim 1,11) im Verkündigen und im Lehren (von „Paulus“
beides 1 Tim 2,7; 2 Tim 1,11, vom Apostelschüler „verkündigen“
1 Tim 4,1; „lehren“ 1 Tim 4,11; 6,2). Der Gemeindeleiter hat
(2 Tim 2,1f.) die apostolische Tradition vom Apostel gehört (2 Tim
1,13), als verpflichtendes Erbe vor vielen Zeugen mitgegeben bekommen
(2 Tim 2,1f.), er ist dem Apostel in der Lehre, im Lebenswandel, im Verhalten
und in der Leidensbereitschaft nachgefolgt (1 Tim 4,6; 2 Tim 3,10). Ihm
wird (2 Tim 3,14-17) das Verbleiben in der Heiligen Schrift (nach dem
Verständnis der Pastoralbriefe!) nahegelegt und ein vorbildlicher
Lebenswandel abgefordert (1 Tim 4,11-16; 2 Tim 2,22). Er soll zuverlässig
sein (2 Tim 2,2) wie es der Apostel war (1 Tim 1,12), zur Zeit und zur
Unzeit das Wort verkündigen, Häretikern widerstehen (2 Tim 4,1-5),
und so den Kampf kämpfen (1 Tim 1,18-20; 4,10; 6,12), den der Apostel
selbst gekämpft hat (2 Tim 4,7). Seine Verkündigung soll so
sein, daß Andersdenkende nicht an seiner Person Anstoß nehmen
und davon abgehalten werden, der rettenden Wahrheit zu gehorchen (2 Tim
2,25f.), vielmehr soll sie Menschen retten (1 Tim 4,16), erziehen (2 Tim
2,25) und überführen (Tit 1,13).
Aufgabe zur Weiterarbeit:
Stellen Sie mit Hilfe einer Konkordanz zu den Wortgruppen sozein, didaskein
und elenchein (jeweils mit Derivaten) die anderen grammatischen Subjekte
fest. In welchen theologischen Rahmen ist das Wirken des Gemeindeleiters
eingeordnet?
Die Gemeindeglieder
kommen vornehmlich als Adressaten der Belehrung durch die Gemeindeleiter
in Wort und Verhalten in den Blick; von ihren Charismen wird nicht gesprochen.
Gefordert werden Besonnenheit und Frömmigkeit (Tit 2,12) sowie rechter
Wandel, Liebe, Glaube, Heiligung (vgl. 1 Tim 4,12). Die Gemeindeglieder
sollen in allem das Gegenbild abgeben zu der auch moralischen Verderbtheit
der Irrlehrer (Tit 1,16). Erwartet wird ferner die Einweisung der eigenen
Familienangehörigen in ihre soziale Rolle im Haus (Tit 2,3f.).
Ethik
Als Norm gilt die apostolische Tradition; Die Entsprechung zum Handeln
Gottes bzw. Christi als mögliche Norm kommt nicht in den Blick.
Aussagekräftig für die materiale Ethik sind vor allem 1 Tim
4,12; Tit 3,1f. dann die Anweisungen für einzelne Stände 1 Tim
6,1f.; Tit 2,1-10, schließlich beleuchten auch Texte wie 1 Tim 2,8-15
die Wertvorstellungen des Verfassers.
Der Christ der Pastoralbriefe lebt selbstbeherrscht, seinem Mitmenschen
in guten Werken, in Nächstenliebe, Gerechtigkeit und Milde positiv
zuge-wandt, gegenüber Gott in dank-barem Be-wußtsein der Gnadenhaftigkeit
göttlicher Zuwendung und im Bewußtsein des verpflichtenden
Charakters christlicher Existenz (1 Tim 4,12; Tit 3,1f.). In Familie,
Gesellschaft und Gemeinde erkennt er vorbehaltlos die Grenzen an, die
sich aus seinem sozialen Status ergeben (1 Tim 6,1f.; 1 Tim 2,2; Tit 3,1).
An Themen spezieller Ethik sind die Themen „zwischenmenschliche
Beziehungen“ und „Reichtum“ angesprochen. Das zuerst
genannte Thema spiegelt als Wertvorstellungen des Verfassers die Bejahung
konservativer gesellschaftlicher Lebensformen, etwa in den Fragen des
sozialen Ungleichgewichtes zwischen Mann und Frau und zwischen Herrn und
Sklaven. Die Warnung vor den Gefahren des Reichtums wird psychologisch
(1 Tim 6,17a; vgl. 1 Tim 6,6-10) wie theologisch (1 Tim 6,17b-19) begründet.
Die wiederholte Warnung vor einer negativen Außenwirkung des Christentums
erscheint nur sinnvoll unter der Voraussetzung, daß der Verfasser
i.w. Kritik am Christentum vor Augen hat, die sich ihrerseits aus konservativen
Wertvorstellungen speist. Wenn das Christentum bei den Vertretern solcher
Wertvorstellungen aufgrund seines jungen Alters sowie der Fremdartigkeit
seiner theologischen Vorstellungen wenig Chancen hatte, mußte es
beide unabwendbare „Mängel“ wenigstens durch ein ethisch
kompatibles Verhalten kompensieren können - auch bei Tacitus, ann.
15,44 sind der Abscheu gegen die Fremdartigkeit und der Verdacht auf ethisch
verfehltes Verhalten kombiniert.
In der Pastoralbriefen wird die Außenwirkung christlicher Existenz
aber auch positiv als Horizont christlichen Verhaltens wahrgenommen: Gegenüber
„allen Menschen“ ist Demut gefordert (Tit 3,2).
Frage zur Weiterarbeit:
In welchen theologischen Bezügen wird die Wendung „alle Menschen“
in den Pastoralbriefen verwendet? Verwenden Sie eine Konkordanz!
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