Lektion 9: Die Deuteropaulinen

Nicht von Paulus und doch von Paulus?
Der zweite Thessalonicherbrief
Der Kolosserbrief
Der Epheserbrief
Die Pastoralbriefe
Exkurs: Gnosis

Exkurs: Gnosis

Der Name bezeichnet eine geistige und religiöse Bewegung innerhalb und außerhalb des Christentums, die als die wichtigste Herausforderung für die werdende (! Die Grenzen zwischen Orthodoxie und Häresie waren in der Mitte des 2. Jahrhunderts noch nicht deutlich gezogen) Großkirche im zweiten und dritten nachchristlichen Jahrhundert gelten muß. War man zu ihrer Erschließung früher wesentlich auf die vor allem auf dem Gebiet der Ethik zumeist polemischen und historisch nicht verifizierbaren Berichte der Kirchenväter (vor allem Irenäus von Lyon, Hippolyt von Rom, Epiphanius von Salamis) angewiesen, hat sich seit den Nag-Hammadi-Funden (ab 1946) die Quellenlage wesentlich verändert: Hier fand man 13 koptische, überwiegend mit gnostischen Originaltexten beschriebene Codices, die seither intensive wissenschaftliche Bearbeitung erfahren haben. Die einzelnen Lehren der uns von den Kirchenvätern her bekannten Schulhäupter Kerinth, Basilides, Valentinus, Justin (nicht zu verwechseln mit dem Verfasser der beiden Apologien und des Dialoges mit dem Juden Trypho), Severin, Satornil und der uns bekannten Gruppen wie Naassener, Ophiten (beide Namen beziehen sich auf die Schlange nach Gen 3), Kainiten, Sethiten u.a. lassen sich jedoch nur selten mit den zumeist anonym firmierenden Texten in Verbindung bringen. Kontrovers diskutiert wird in der Forschung ebenso der Ursprung der Gnosis wie ihre genaue (!) Definition; in letzterer Frage hat sich ein pragmatischer Konsens herausgebildet, demgemäß als „gnostisch“ nur die ausgebauten kosmologischen Systeme des 2.Jahrhunderts bezeichnet werden, die die Schöpfung der Welt durch einen Gegengott vorsehen. Nicht jeder Dualismus ist gnostischer Dualismus!
Beliebte gnostische Literaturformen sind Evangelienschriften (oft als Dialog des auferstandenen Christus mit einer oder einem seiner Jüngerinnen / Jünger gestaltet), Briefe und Offenbarungsschriften. Ein Überblick üben die einzelnen Systeme kann hier nicht gegeben, es sollen aber gewisse Gemeinsamkeiten ihrer Lehren beschrieben werden.

Gottesbild.

Der oberste Gott ist ungeschaffenes, ungezeugtes reines Licht und reines Wesen, ohne Namen, nicht zu erfassen, hat mit nichts Ähnlichkeit. Er denkt sich selbst, und von daher entstehen Emanationen Gottes. Diese, in den uns bekannten Systemen zwischen 8 und 30 etc. an der Zahl, treten oft in Paaren aus der Gottheit heraustretend, zumeist männlich und weiblich, und werden dann Syzygien genannt und mit allen möglichen Namen bezeichnet.

Kosmologie.

I.w. bestehen zwei Möglichkeiten: Entweder wird ein von Anfang an existierender Gegengott gedacht (so in der nachchristlichen und nachgnostischen Religion des Manichäismus) oder es wird eine Devolution des Göttlichen, ein kosmischer Unfall bzw. Sündenfall in das göttliche Prinzip selbst hineinprojiziert (so die meisten anderen System). Das kann wiederum auf zweierlei Weise gedacht sein: Entweder es fällt eine der Emanationen aus dem göttlichen Pleroma heraus, oder eine der Emanationen ersinnt einen Gedanken aus sich heraus ohne Zustimmung des Paargenossen (Apocryphon Johannis 36,16-37,16; Aufnahme des Mythos vom illegitim gezeugten Götterkindes). Dieser erzeugte Gedanke ist der Demiurg, der sich selbständig macht und sich seine eigene Welt, eben dieser unsere Welt erschafft. Er wird in christlicher und nachchristlicher Gnosis zumeist mit dem alttestamentlichen Schöpfergott identifiziert, ein häufiger Gottesname ist Jaldabaoth. Die neu entstehenden ihm untergeordneten Engelmächte sind die Archonten. Das, was wir als die Welt der Schöpfung bezeichnen, gilt von daher als grundsätzlich minderwertig und schlecht.

Menschenbild:

Der Mensch ist dichotomicsh (Leib und Geist) oder trichotomisch (Leib, Seele, Geist) gedacht. Der Demiurg erschafft den Leib (den Aussagen des Apocryphon Johannis zufolge erschaffen die Weltmächte die unvernünftige Seele als Sitz der Begierde), der Geist wird ihm durch den obersten Gott durch eine List eingeflößt. Dieser Partikel im Menschen wird als substantiell verwandt mit dem obersten Lichtgott gedacht. Ziel ist die Befreiung dieses Geist-Teiles im Menschen, dieses Licht-Funkens aus der Finsternis dieser Welt, aus dem Kerker, dem Grabmal dieses Leibes.

Soteriologie:

Gnosis bedeutet "Erkenntnis" und ist insofern dem Anspruch der Philosophie verwandt. "Erkenntnis" erlangt der Mensch durch Besinnung auf seine eigentliche Bestimmung. Daß er zu dieser Besinnung durch andere aufgefordert werden muß, also das extra nos der Erkenntnisinitialisierung, ist formal gesehen ebenfalls noch der Philosophie parallel, inhaltlich jedoch insofern unterschieden, als das Erkenntnis vermittelnde Subjekt als übermenschliches Wesen gedacht und von daher die Erkenntnis esoterisch verstanden wird, während griechische Philosophie prinzipiell aus der gemeinsamen Natur des Menschseins folgert, daß alle Menschen kraft ihres Menschseins zu dieser Erkenntnis fähig sein müßten, so sehr im einzelnen griechische Philosophen den Unverstand der Masse tadeln.
Soteriologie ist verstanden als Offenbarung von Erkenntnis, das Motiv der Tilgung vorange-gangener Sünden ist nur summarisch als Überschritt aus dem geistlichen Tod ins Leben beibehalten. Der Erlöser kommt auf die Erde, um den Menschen die Erkenntnis zu bringen, und in mythologischer Deutung muß er sich bei dem Weg hin und zurück gegen die feindlichen Attacken der Weltmächte sichern.

Ethik:

Entgegen der Polemik der Kirchenväter zeigen die uns erhaltenen Schriften zumeist das Bild strenger Askese (wahrscheinlich richtig benannt in 1 Tim 4,3), begründet in dem defensiven Reinheitsverständnis, das die Reinheit meines Geistes durch die Begierden der Seele und des Leibes bedroht sieht und sie entsprechend davor schützen muß. Auch das Sakrament des sog. Brautgemaches im Philippus-Evangelium ist nicht eine Konzession zu freier Sexualität; bezeichnet wird die Todesstunde, in der der Gnostiker endgültig die Welt hinter sich läßt und ins Lichtreich eingeht und mit ihm wieder vereinigt wird.

Gemeindeorganisation:

Wir können damit rechnen, daß außerchristliche Gnostiker sich in Kultvereinen organisiert, christliche Gnostiker zunächst einmal religiös interessierte Gruppen innerhalb der bestehenden Gemeinden gebildet haben. Christliche Gnostiker, zumindest die Leiter dieser Gruppen, waren in der Regel Menschen mit nicht geringem Bildungsgrad. Kennzeichnend ist ein charismatisches Verständnis von Hierarchie. Darum hatten z.B. Frauen in der Gnosis mehr Entfaltungsmöglichkeiten als in der Großkirche, was sich in einem wechselseitigen Prozeß der Abgrenzung auf die Stellung der Frau innerhalb der Großkirche nachteilig auswirkte.
Die Gnostiker teilten die Menschheit nicht selten in zwei oder drei Klassen ein: Sie selbst waren die Pneumatiker, prinzipiell der freilich noch durch Bewährung in diesem Leben zu sichernden (!) Rettung gewiß, und die Hyliker, in Ewigkeit verloren; manche nahmen auch noch die Klasse der Psychiker an, das sind Menschen, deren Schicksal noch nicht völlig zum Guten oder zum Bösen entschieden ist. Unschwer erkennt man die alte philosophische Frage wieder, ob es nur Weise und Toren gibt, oder ob es auch noch Menschen dazwischen gibt, und ob diejenigen, die sich zur Tugend hinentwickeln, noch auf die Seite der Toren oder schon auf die Seite der Weisen zu rechnen sind. Sofern Gnostiker mit solchen Attitüden eine höhere Art von Christentum zu vertreten beanspruchten, waren und sind sie dem sich im Gegenzug dazu herausbildenden Ideal der Einheit der Ortsgemeinde abträglich, sofern sie in ihren Bibelauslegungen aus ihrer Verhaftung in philosophische und mythologische Traditionen heraus dem schlichten Wortlaut der Schrift widersprachen, war das Problem der rechten inhaltlichen Kontinuität zu den Anfängen der christlichen Tradition gegeben.