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Lektion 9: Die Deuteropaulinen
Nicht von Paulus und doch von Paulus?
Der zweite Thessalonicherbrief
Der Kolosserbrief
Der Epheserbrief
Die Pastoralbriefe
Exkurs: Gnosis
Der zweite Thessalonicherbrief
Die Verfasserfrage
Der Zweite Thessalonicherbrief wird von der Mehrheit
der heutigen Ausleger dem Apostel Paulus abgesprochen und einem nachpaulinischen
Autor zugeschrieben. Ausschlaggebend sind vor allem eine gegenüber
1 Thess 4,13-18; 5,1-11, aber auch 1 Kor 15,20-28 völlig veränderte
Eschatologie, ferner der Umstand, daß nicht selten paulinische Motive
aufgenommen, aber in einem völlig anderen Zusammenhang verwendet
werden.
Frage zur Weiterarbeit: Der Verfasser des Zweiten Thessalonicherbriefes
kennt offenbar die Anschauung, daß ein Apostel das Recht habe, von
der Gemeinde unterhalten zu werden, und er weiß darum, daß
Paulus von diesem Recht nicht Gebrauch gemacht hat. Welchem Zweck dient
der Verweis auf diesen Rechtsverzicht in 1 Thess 2,9f., welchem in 2 Thess
7-9?
Antwort: In 1 Thess 2,9f. ging es darum, die Lauterkeit der Missionsarbeit
zu unterstreichen, in 2 Thess 3,7-9 um das verpflichtende Vorbild der
Lebensform des Apostels.
Ferner setzt die Erwähnung gefälschter Paulusbriefe (2 Thess
2,2; 3,17) eine Hochschätzung des Paulus als anerkannter Autorität
voraus, die für die Zeit um 50 n. Chr. noch unwahrscheinlich ist.
Anlaß und Zweck des Briefes
Der Brief ist um 2,1-12 willen geschrieben. Er will
der Beunruhigung der Gemeinde angesichts der wohl u.a. auf 1 Thess 5,1-11
gestützten Behauptung einiger entgegenwirken, der Tag des Herrn sei
da, stehe unmittelbar be-vor. Vielmehr müsse noch eine gewisse Folge
von Ereignissen eintreten.
Umstritten ist, ob infolge dieser Parusie-erwartung
einige offenbar den geregelten Lebenswandel, z.B. ihre berufliche Tätigkeit
aufgegeben haben, so daß der Brief in 3,6-13 auf eine aus der Behauptung
2,1f. erwachsende Fehlhaltung rekurriert. Aus dem Text 3,6-13 geht das
nicht zwingend hervor; auch spricht m.E. die Zwischenstellung von 2,15-3,5
dagegen.
Die Frage nach dem Abfassungszweck des Zweiten Thessalonicherbriefes
hat verschiedenen Antworten gefunden: Ph. Vielhauer erkennt den Niederschlag
einer Auseinandersetzung um die Naherwartung im paulinischen Einflussbereich,
wobei sich die eschatologischen Enthusiasten ebenso wie der Verfasser
des 2 Thess auf Paulus beriefen; im Hinblick auf die Bedeutung des 1 Thess
bei seinen Gegnern schreibe der Verfasser bewusst einen Zweiten Thessalonicherbrief.
Nach A. Lindemann (und vielen älteren Auslegern) will dieser Brief
die anstößige Eschatologie des Ersten Thessalonicherbriefes
ersetzen und die eigene als die authentische paulinische ausgeben. W.
Trilling interpretiert den Zweiten Thessalonicherbrief als weiterführende
Unterweisung; dieser Brief weise eine bestimmte Auffassung zurück,
für die sich deren Vertreter auf den Ersten Thessalonicherbrief berufen.
E. Reinmuth bezeichnet den Zweiten Thessalonicherbrief als Leseanweisung
für 1 Thess, die dessen „verwirrende Wirkung .... einzugrenzen
und zu beenden“ trachtet (E. Reinmuth, Der zweite Brief an die Thessalonicher
übersetzt und erklärt, NTD 8,2 Göttingen 1998, 161).
Ort und Zeit
Über Ort und Zeit der Entstehung läßt
sich nichts Sicheres ermitteln. Sicher ist nur, daß der Zweite Thessalonicherbrief
in der Makrostruktur wie in einzelnen Motiven und Aussagen auf 1 Thess
rekurriert; vgl. die Präskripte 2 Thess 1,1f. und 1 Thess 1,1; vgl.
ferner 2 Thess 1,3 mit 1 Thess 1,3, 2 Thess 2,16f. mit 1 Thess 3,11-13,
2 Thess 3,6-13 mit 1 Thess 4,11f.; 5,14, 2 Thess 3,8 mit 1 Thess 2,9,
2 Thess 3,16.18 mit 1 Thess 5,23.28. Deutet man 2 Thess 2,6 auf eine positive
Einschätzung der Parusieverzögerung durch den Autor, kann dieser
Umstand neben der schon beginnenden Verselbständigung des Gedankens
der apostolischen Norm auf eine Datierung gegen Ende des ersten Jahrhunderts
führen, doch ist der Zweite Thessalonicherbrief auch als „erster
Deuteropauline zu Lebzeiten des Paulus“ interpretiert worden (O.
Merk).
Grobgliederung
1,1-2 Präskript
1,3-12 Proömium mit apokalyptischer Digression
2,1-17 Belehrung über die Endzeit
3,1-13 Mahnungen und Warnungen
3,14-18 Briefschluß
Wie meistens kann man in einzelnen Fällen auch anders gliedern. Die
hier vorgenommene Zuweisung von 2 Thess 3,14-16 zum Briefschluß
ist in der Deutung von 2 Thess 3,14 als einer auf den ganzen bisherigen
Brief bezogener Weisung impliziert.
Feingliederung
1,1-2 Präskript
In der Beziehung zu „Gott unserem Vater und dem Herrn
Jesus Christus“ sind Absender und Adressaten miteinander verbunden.
1,3-12 Proömium als Danksagung
Der Verfasser dankt für die Bewährung des Glaubens
und der Liebe, aber nicht der Hoffnung, vielleicht wegen ihrer problematischen
Form (vgl. 2 Thess 2,2) bei den Adressaten. Die Gemeinde kann sich inmitten
von Bedrängnissen der Bewahrung trösten, während diejenigen,
die Gott nicht kennen (= traditionelle jüdische und christliche Bezeichnung
für „die Heiden“), Gottes Gericht trifft.
2,1-12 Belehrung über die Endzeit
2 Thess 2,1-12 benennt den Anlaß des Schreibens: Der Verfasser
will vor der Illusion warnen, als sei der Tag des Herrn schon da. Als
mögliche Quelle der Beunruhigung werden ein Spruch eines urchristlichen,
im Geist redenden Propheten, ein (einen solchen Spruch deutendes?) Wort
oder auch der Erste Thessalonicherbrief benannt.
Der Abfall der Vielen vom Glauben in der letzten Drangsal ist apokalyptischer
Topos im Judentum wie im Christentum (vgl. Dan 11,32; Jub 23,14-21; äthHen
91,7; Mk 13,5-23 parr.; 1 Tim 4,1 u.ö.). Die widergöttliche
Macht wird als „Sohn der Gesetzlosigkeit“ gekennzeichnet,
d.h. als Bedrohung jeglicher von Gott gesetzten Lebensordnung, des weiteren
als „Sohn des Verderbens“: Diese Macht bringt Verderben und
verfällt selbst dem Verderben, samt denen, die sich von ihr verführen
lassen (V. 8-12). Traditionsgeschichtliche Parallelen zu dieser widergöttlichen
Macht sind gezeichnet in der Figur des »Antichrist« im Ersten
und Zweiten Johannesbrief (die Bezeichnung dieser Figur ist aufgrund von
1 Joh 2,18.22; 4,3; 2 Joh 7 aufgekommen); vgl. daneben auch Mk 13,14 par;
Apk 13; 17; Did 16,4.
Zu dem Motiv des „sich selbst als Gott ausgebens“ vgl. Ez
28,1-10; Jes 14,14-20; Sib 5,33f. Daß sich das Geheimnis der Gesetzlosigkeit
jetzt schon regt, qualifiziert die Gegenwart der Gemeinde als Entscheidungszeit.
Unbestimmt bleibt die aufhaltende Macht (vgl. zum Thema der Verzögerung
des Endes insgesamt Hab 2,3f.), deren griechischer Ausdruck vom Neutrum
in V. 6 zum Maskulinum in V. 7 wechselt; gesagt ist damit, daß die
Gegenwart noch nicht die Zeit der unverhüllten letzten Drangsal ist,
vielleicht auch, dass selbst die Parusieverzögerung ein Element in
Gottes Plan ist, das seine Herrschaft nicht in Frage stellt.
2,13-17 Dank für die Erwählung und Mahnung, in der apostolischen
Überlieferung zu verbleiben.
Der Abschnitt dient der Bestärkung und der Mahnung der
Gemeinde.
Daß die Angesprochenen zu den Christen zählen, verdanken sie
der Erwählung durch Gott, die in der vom Geist Gottes ausgehenden
Heiligung und im Glauben an die Wahrheit manifest wird und sich mit Hilfe
der Verkündigung des Apostels realisierte. Die Erwählung hat
die Teilhabe an der Herrlichkeit Christi zum Ziel (vgl. Röm 8,29).
Hatte die Verkündigung des Paulus solch fundamentale Bedeutung für
die Adressaten, wird folgerichtig eingeschärft, „an den Überlieferungen
festzuhalten“. Die Wendung „sei es durch Wort, sei es durch
Brief von uns“ kann auf 1 Thess verweisen, aber auch im allgemeineren
Sinne interpretiert werden, so dass überhaupt „der Brief des
Apostels“ als maßgebliche Norm verstanden wird. 2 Thess 2,15
wäre somit ein Zeugnis der beginnenden Hochschätzung des „Apostolischen“
in der Kirche.
3,1-5 Bitte um Fürbitte
Die Thessalonicher sollen für den missionarischen Erfolg
beten, ebenso um die Bewahrung des Apostels angesichts der Gefährdung
durch äußere wie innere Feinde. Sie werden in V. 3 wiederum
der Bewahrung durch Gott versichert. V. 4 bereitet die folgenden Mahnungen
vor. Die Deutung der Genitivverbindungen in V. 5 („Liebe Gottes“
oder „Liebe zu Gott“; „Geduld Christi“ oder „Geduld
hin auf Christus“, d.h. auf seine Erscheinung) bleibt unsicher.
3,6-13 Warnung vor Toleranz gegenüber „unordentlichem
Lebenswandel“.
Die Warnung vor einem unordentlichen Lebenswandel wird ausdrücklich
als Inhalt der apostolischen Überlieferung genannt. Umstritten ist,
ob die hier Kritisierten die Arbeit im Zuge brennender Naherwartung als
Hindernis zur ungeteilten Hingabe an das Leben im neuen Äon verstanden
haben oder nicht. Im letzteren Fall könnte Did 12,3-5 den Hintergrund
erhellen: Es gab offenbar Christen, die eine finanzielle Unterstützung
durch die Gemeinde durchaus ohne Not gerne in Anspruch nahmen. Daß
der Apostel sich - entgegen der ihm gegebenen Vollmacht (vgl. 1 Kor 9,6)
- durch eigener Hände Arbeit seinen Lebensunterhalt verdient, wird
hier zum exemplum der geforderten Nachahmung (zur Nachahmung des Apostels
durch die Christen vgl. 1 Kor 11,1). Zu der Mahnung V. 10 vgl. PsPhok.
153f.: „Arbeite mit aller Anstrengung, damit du aus eigenen Mitteln
leben kannst. Denn jeder, der nicht selbst arbeitet, lebt von seiner Hände
Diebstahl.“
3,14-16 Von der brüderlichen Zurechtweisung des Ungehorsamen
Der angesprochene Ungehorsam bezieht sich wohl nicht nur auf
3,6-13, sondern hat den Brief insgesamt im Auge.
3,17-18 Eigenhändiger Schlußgruß und Segenswunsch.
Die Bemerkung „so schreibe ich“ will dem Brief den
Anschein des Authentischen geben.
Theologische Grundgedanken
Gerade für den Zweiten Thessalonicherbrief gilt,
daß er, noch extremer als einige der echten Paulusbriefe, ein situationsbezogenes
Schreiben ist und man in ihm nicht ein vollständiges theologisches
System seines Autors erwarten darf. So ist die Rolle der Person Christi,
der Situation angepaßt, nur hinsichtlich ihrer eschatologischen
Implikate entfaltet; anderes fehlt vermutlich deshalb, weil der Autor
sich nicht zu einer Darlegung dieser Thematik veranlasst sah.
Erkennbar ist eine gemeinchristliche, für Heidenchristen (vgl. die
Wendung „Heiligung des Geistes = durch den Geist“) berechnete
Soteriologie: Gott hat die Christen erwählt; sie sind die von Gott
Geliebten (2 Thess 2,13.16). Sie leben im Horizont der Erwartung des Reiches
Gottes, dessen gewürdigt, dorthin berufen zu werden der Verfasser
für die Gemeinde hofft (2 Thess 1,5.11). Doch ist das Ende noch nicht
da; ihm gehen bestimmte Ereignisse voraus, die von den Christen auch auf
ihren Bezug zu Gottes Geschichtsplan hin durchschaubar sind (2 Thess 2,1-12).
Die von den Christen erwarteten Verhaltensweisen werden in Termini beschrieben,
die teils dem Ersten Thessalonicherbrief entnommen sind (zu Glaube, Liebe
und Geduld 1,3f. vgl. 1 Thess 1,3; zur Vermeidung von Unordnung 3,6f.
vgl. 1 Thess 5,14; zum unauffälligen Lebenswandel 3,12 vgl. 1 Thess
4,11), teils anderweitig bei Paulus begegnen (zu 2 Thess 1,11 vgl. Röm
15,14; Gal 5,22; zu 2 Thess 2,17 vgl. 1 Thess 5,15, zur Wendung „gutes
Werk“ vgl. Röm 2,7; 2 Kor 9,8; Phil 1,6; für die Verbindung
„Wort und Werk“ vgl. Röm 15,18) und zugleich die kirchliche
Gemeinsprache in der Spätzeit des Neuen Testamentes widerspiegeln
(zur Forderung des unauffälligen Lebenswandels vgl. 1 Tim 2,2; zur
Wendung „gutes Werk“ vgl. 1 Tim 5,10; 6,18).
Im Zweiten Thessalonicherbrief wird bereits das Apostolische als eine
fundamentale Wirklichkeit der frühen Kirche thematisiert. Die Gemeinde
wird auf die Überlieferungen des Apostels verpflichtet (2 Thess 2,15;
3,4.6), dessen Verkündigung für ihren Christenstand fundamental
ist (2 Thess 2,14). Die Gemeinde widersteht den Irrlehrern, indem sie
am Wort des Apostels festhält (2 Thess 2,5). Das Vorbild des Apostels
wirkt verpflichtend bis in das persönliche Ethos hinein (2 Thess
3,7-9).
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