Lektion 7: Die sieben echten Paulusbriefe

Der erste Thessalonicherbrief
Der erste Korintherbrief
Der zweite Korintherbrief
Der Galaterbrief
Der Philipperbrief
Der Philemonbrief
Der Römerbrief

Der Philipperbrief

Geographische Lage der Stadt

Philippi liegt an der Ost-West-Verbindung, der via Egnatia gelegen, 140 km von Thessaloniki entfernt, 200 km von Troas, 15 km von dem Hafen Neapolis (heute Kawalla). Im Hinblick auf die Frage nach dem Entstehungsort des Briefes gilt es sich einige Reisezeiten zu vergegenwärtigen: Die Entfernung Philippi-Rom beträgt auf dem Landweg 1084 km (Philippi - Dyrrhachium: Via Egnatia; Dyrrachium - Brundisium: Überfahrt per Schiff; Brundisium - Rom: Via Appia). Die Reise zu Lande und zu Wasser dauerte vier Wochen, die Schiffsreise Neapolis - Puteoli/Ostia zwei Wochen.

Geschichte der Stadt

Philippi ist eine ursprünglich thrakische Stadt mit Namen Krenides, wegen des Reichtums an Wasserquellen, in einer goldreichen Gegend (Strabo 7, Frgm. 34). 356 eroberte der Makedonenkönig Philipp II. die Stadt und benannte sie nach sich selbst um.
Schon für die Antike (vgl. Plutarch, Brutus 36; Tacitus, Hist. 1,50, 2,38) ist der Name Philippi untrennbar verbunden mit der Doppelschlacht zwischen den Republikanern Cassius und Brutus, den Mördern Cäsars, und Antonius und Octavius, dem nachmaligen Kaiser Augustus. Die Besiedlung der Stadt Philippi ist ursächlich mit dieser Schlacht verbunden; Antonius und dann Octavian siedelten hier entlassene Veteranen an, die mit Land zu versorgen waren, ebenso einige dafür enteignete Bewohner Italiens. Augustus verpaßte 30 v. Chr. der Stadt den neuen Namen Colonia Iulia Augusta Philippensis, der neben neuen Münzprägungen und Altarbauten dafür sorgen sollte, daß man nicht mehr Antonius, sondern Octavius Augustus als den eigentlichen Herrn der Stadt anzusehen habe.

Religionsgeschichtliches zu Philippi

Umstritten ist, ob zur Zeit des Paulus eher ein Nebeneinander verschiedenster thrakischer, maekdonischer, hellenistischer und anderer Kulte festzustellen ist oder ob die römischen Kulte dominieren, ferner, ob es in Philippi eine eigenständige jüdische Gemeinde (mit der Mindestzahl von 10 Männern) gegeben hat.
Die christliche Gemeinde in Philippi wurde von Paulus während seiner sog. Zweiten Missionsreise gegründet, vermutlich im Jahre 49 oder 50 n. Chr. Nach Apg 16 gehörten zu ihr hauptsächlich sog. „Gottesfürchtige“, die sich aus Sympathie für den Monotheismus und den bildlosen Gottesdienst dem Judentum verbunden fühlten, ohne den Eintritt in das Judentum förmlich zu vollziehen. Wahrscheinlich hat Paulus seinen Gründungsaufenthalt in Philippi unter Zwang beenden müssen (vgl. 1 Thess 2,2). Der Philipperbrief zeugt von einem herzlichen Verhältnis des Paulus zu der Gemeinde.
Ca. 80 Jahre nach Paulus schreibt der nachmalige Märtyrer Polykarp ebenfalls einen Brief an die Philipper, in dem er der Gemeinde bescheinigt, daß man von ihrem Glauben seit alters spricht (1,2). An Gemeindeämtern werden im Brief des Polykarp Presbyter und Diakone erwähnt, aber kein episkopos. Die Deutung des Befundes ist allerdings umstritten.

Zur Literarkritik des Philipperbriefes
Der Brief wird von einem Teil der Forschung nicht als literarkritische Einheit gelesen. Ausgangspunkt aller Teilungshypothesen sind vor allem der Stimmungsumschwung zwischen Phil 3,1 und Phil 3,2 und wiederum zwischen Phil 3,21 und Phil 4,1, die angebliche Schlußwendung to loipon in Phil 3,1, die verschieden vorausgesetzte Situation (In Kap. 1-2 und 4 ist die Gefangenschaft des Paulus vorausgesetzt, nicht aber in Kap. 3), der angebliche zweimalige Friedenswunsch in Phil 4,7.9 sowie die späte Erwähnung der Geldgabe der Adressaten an den Apostel (Phil 4,10-20).
Gemeinsam ist den im einzelnen divergierenden Teilungshypothesen: Phil. 4,10-20 ist, sofern es als selbständiges Schreiben gewertet wird, das älteste, Phil. 1,1-3,1 das nächstältere, Phil. 3,2ff. das jüngste Fragment. Umstritten ist i. W. die Zugehörigkeit der einzelnen Teile von Phil. 4,1-9, ferner die Zuweisung von 4,21-23. Doch hält eine stattliche Zahl von Exegetinnen und Exegeten daran fest, daß der Philipperbrief in der heutigen Form eine literarische Einheit bildet. Ein Konsens hat sich auch nicht aufgrund neuerer rhetorischer oder textlinguistischer Analysen ergeben.
Vorbehaltlich besserer Erkenntnis wird der Brief hier als literarkritische Einheit behandelt. Daß Paulus die Geldgabe erst in Phil 4,10-20 thematisiert, ist Teil seiner Strategie, seine innere Unabhängigkeit davon zu beweisen; die Eigenheiten in Phil 3,1-21 sind thematisch bedingt; Phil 3,15 setzt ebenfalls eine gute kommunikative Basis zwischen Apostel und Gemeinde voraus. To loipon muß nicht den Beginn des Briefschlusses signalisieren, sondern ist auch mitten in einem Brief nachgewiesen. Die Divergenzen der Forschung zu Phil 4,1-9 verweisen auf Probleme literarkritischer Methodik.

Ort und Zeit

Die Fragen nach Zeit und Ort der Abfassung des Briefes sind im Falle des Philipperbriefes unmittelbar miteinander verknüpft.
Daß sich Paulus im Gefängnis befindet, wird in der Apostelgeschichte für Cäsarea (Apg 23ff.) und für Rom (Apg 28) erzählt, beide Gefangenschaften liegen nach der Abfassung des Römerbriefes. 1 Kor 15,32 läßt aber auch eine Gefangenschaft in Ephesus als denkbar erscheinen. Verlegt man den Brief nach Rom, muß man den Widerspruch zu den Spanien-Plänen des Paulus gemäß Röm 15,24.28 in Kauf nehmen.

Die im Philipperbrief bekämpften Gegner

Angaben dazu sind am ehesten Phil 3 zu entnehmen, doch gliedert sich der Text in drei Aussageblöcke, die nicht ohne weiteres harmonieren:
1. Die Aussagen um Verschneidung und Beschneidung (Phil 3,2-11)
2. Die Aussagen um die noch nicht erreichte Vollkommenheit (Phil 3,12-16)
3. Die Schilderung der „Feinde des Kreuzes Christi“ (Phil 3,17-21).
Dementsprechend umstritten sind Anzahl und zutreffende Beschreibung der Fronten: Man hat an Judaisten bzw. an Juden gedacht, an judenchristliche Gnostiker oder an Enthusiasten wie im 2. Korintherbrief, gelegentlich hat man mehrere Vorschläge, gestützt auf die genannten Textsegmente, miteinander kombiniert. Lassen sich Phil 3,12-16 und Phil 3,17-21 auch unter Verzicht auf eine feste Front von Gegnern verstehen, so bleibt in Phil 3,2-11 Polemik gegen judenchristliche Missionare, die von den Philippern die Übernahme der Beschneidung fordern: Erst die Beschneidung bringt die Zugehörigkeit zu Israel, und sie ist Bekenntnis zu Israel. Sie war damals wie Sabbat und Reinheitsgebote ein „identity marker“, an dessen Einhaltung jeder zu erinnern war, der für sich die Zugehörigkeit zum Gottesvolk in Anspruch nahm. Paulus antwortet darauf: die Zugehörigkeit zu Christus ist die Zugehörigkeit zu dem Heilsbereich des Gottes Israels.

Grobgliederung

Phil 1,1-2 Präskript
1,3-11 Danksagung
1,12-4,20 Hauptteil
4,21-22 Schlußgrüße
4,23 Gnadenwunsch.

Feingliederung

1,1-2 Präskript
Adressiert ist der Brief nicht nur an alle Heiligen, sondern auch an eine besondere Gruppe in dieser Gemeinde: die Episkopen und Diakone. Ist der Titel diakonos in Röm 16,1 für die Phöbe belegt und als Selbstbezeichnung der Gegner in 2 Kor 11,23 möglicherweise ebenfalls titular verstanden, so erscheint der Titel episkopos bei Paulus nur hier, und zwar in der Mehrzahl. Der Titel episkopos kann (gemäß den paganen Vorbildern) den gemeindlichen Verwaltungsdienst bezeichnen, also z.B. die Führung der Gemeindekasse; daß dem Begriff liturgische Funktionen zuzuweisen sind, ist ebensowenig zu sichern wie gesichert zu bestreiten. Der monarchische Episkopat ist für Phil 1,1 durch den Plural von vornherein ausgeschlossen, er begegnet erst in 1. Tim. 3,1-7.8-15 und in den Briefen des Ignatius von Antiochien.
Der Titel diakonos könnte schon eher einen spezifisch christlichen Gehalt und Hintergrund implizieren (vgl. Mk 10,45!). Profan bedeutet das Wort „Funktionär der Mahlzeiten“, auch bei Opfermahlzeiten. Man kann an karitative Tätigkeiten denken, aber auch an einen Tischdienst im Rahmen der Herrenmahlsfeier.

1,3-11 Proömium
Der Abschnitt weist implizit auf Phil 2,2; 4,2f.; 4,8 voraus.

1,12-26 Die Situation des Paulus
Der Abschnitt sucht die Philipper zu trösten. Um ihretwillen verschweigt Paulus, was er über die Motivation derer wohl genauer weiß, die seiner Haft noch Trübsal bereiten wollen. Billigt man ihnen ehrenwerte Motive zu, so haben sie möglicherweise versucht, die Gemeinde durch ihre Distanzierung von Paulus vor der römischen Behörde zu retten und das Christentum als ungefährlich hinzustellen, und dadurch Gemeindeglieder auf ihre Seite gezogen.
Der Text setzt eine Gefangenschaft des Paulus voraus, die mit seinem Martyrium enden könnte; eine Berufung auf den Kaiser wie in Apg 25 ist nicht in Sicht. Tatsächlich stirbt Paulus den Märtyrertod (s.o.). - In Phil 1,23 ist das Thema der sofortigen Christusgemeinschaft des Paulus nach seinem Tode (vgl. 2 Kor 5,1-10) nicht Selbstzweck, vielmehr kann dieser Gedanke weitaus besser als die Erwartung der Auferstehung am Ende der Tage den Philippern versichern, wie sehr Paulus persönliche Wünsche zugunsten des Daseins für die Gemeinde zurückstellt.

1,27-30 Mahnung zu einem würdigen Wandel und zur Leidensbereitschaft
Die Mahnung zur Leidensbereitschaft war für eine heidenchristliche Leserschaft ungewöhnlich: Dem Leiden ist in der griechisch-römischen Antike nicht als solchem ein positiver Sinn beschieden, es kann allerdings als zur sittlichen Läuterung dienend gedacht werden. Zum Vergleich des Leidens mit einem Wettkampf vgl. schon 4 Makk 17,11-16.

2,1-18 Mahnung an die Gemeinde

2,1-4 Mahnung zur Eintracht

2,5-11 Christuspsalm
Der (vorpaulinische?) seit der Zeit der Alten Kirche zentrale theologische Text ist kein Hymnus (die klassischen Elemente eines griechischen Hymnus an die Götter: Anrufung - Mittelteil - Bitte, sind in Phil 2,6-11 kaum vertreten), sondern ein Text analog den alttestamentlichen Geschichtspsalmen, angereichert durch einzelne Motive aus Jes 53 und Jes 45,23 LXX. In V. 6.7ab ist der Übergang von der göttlichen Daseinsweise des Präexistenten in das irdische Leben benannt, in V. 7 cd.8 der Tod als Vollendung des Gehorsams in diesem irdischen Leben, in V. 9 die Erhöhung, in V. 10 die endzeitliche Huldigung durch die Engel, die auf Erden lebenden Menschen und die Toten; sie stimmen zur Ehre Gottes des Vaters ein in das Bekenntnis, das die Gemeinde auch in Philippi schon jetzt kundtut. Die tapeinosis der Philipper hat in der tapeinosis Christi ihr Vorbild, das Christsein der Philipper in der tapeinosis Christi ihren Grund.

2,12-18 Mahnung zur Bewährung
„Schafft euer Heil ... “ Der Text ist nicht auf die kontroverstheologische Problematik des 16. Jahrhunderts hin entworfen, sondern mahnt die Gemeinde zur Bewährung ihres Christseins angesichts des bevorstehenden „Tages Christi“ (V. 16), an dem der Zustand der paulinischen Gemeinden auch das Urteil über Paulus selbst mitbestimmt.

2,19-30 Die Sendung des Timotheus und des Epaphroditus
Die Würdigung des Timotheus in V. 22 läßt gerade in der gebrochenen Anwendung des Vergleichs „wie ein Kind dem Vater“ erkennen, daß das Verhältnis zwischen Paulus und seinen Mitarbeitern durch die Sache des Evangeliums begründet ist und in seiner Gestaltung bestimmt sein soll. Die vorzeitige Rücksendung des Epaphroditus ist begründet in der Sorge des Apostels um die Gemeinde, der er jegliche zusätzliche Belastung ersparen will.

3,1 Aufruf zur „Freude im Herrn“

3,2-11 Verschneidung und Beschneidung
Paulus versichert die Philipper mit dem Satz „wir sind die Beschneidung“ der vollen Gültigkeit ihres geistlichen Status. Zu dem genannten Satz vgl. den Gedanken der Beschneidung des Herzens i.S. des Gehorsams gegenüber dem göttlichen Gebot (Jer 4,4; Dtn 10,16; Ez 44,7; 1QS 5,5.26; vgl. Röm 2,28; 4,11f.).
Die Wendung „gemäß der Gerechtigkeit, die im Bereich des Gesetzes gilt, untadelig“ ist lange Zeit in der Weise mißverstanden (und gegen angebliche römisch-katholische Werkgerechtigkeit ins Feld geführt) worden, als wolle sich der fromme Jude durch sein Tun des Gerechten vor Gott sein Recht verschaffen. Hingegen ist der Jude sich durchaus dessen bewußt, daß er auf Gottes Güte angewiesen ist: „Gerechte wirst du segnen ... und deine Güte gilt reuigen Sündern“ (PsSal 9,7). So hat vermutlich auch der vorchristliche Paulus seine „Leistung im Gesetz“ als Bewährung der vorrangigen Erwählung durch Gott verstanden. Doch warum wird das, was bisher Gewinn war, nicht einfach irrelevant, warum muß es als Verlust gebucht werden? Wohl deshalb, weil nach der Ankunft Christi die Beharrung des Menschen auf der Situation davor als „seine“ Eigenmächtigkeit, d.h. als Ungehorsam gegenüber dem sich neu definierenden (vgl. Jer 16,14f.; 23,7f.) Gott anzusehen ist.

3,12-16 die noch nicht erreichte Vollkommenheit
Paulus erinnert daran, daß auch er selbst dem Jüngsten Gericht keineswegs entnommen ist, so daß er deswegen nichts mehr zu befürchten hätte. Christliche Vollkommenheit weiß das!

3,17-21 Die „Feinde des Kreuzes Christi“
Der Abschnitt warnt die Philipper vor einer falschen Lebenspraxis; die Feinde des Kreuzes Christi sind Negativbeispiel, wie man nicht leben soll. Phil 3,20f. zeigen, daß Paulus an der Parusieerwartung festhält.

4,1 Zusammenfassung
Paulus vertraut darauf, daß die Gemeinde ihm gehorsam ist. Der Satz zeigt das gute Einvernehmen zwischen Paulus und den Philippern

4,2f. Mahnung an Euodia und Syntyche
Historisch ist die Stelle ein Beleg für hervorgehobene Funktionen von Frauen in den frühen christlichen Gemeinden; theologisch ist bemerkenswert, daß Paulus nicht Stellung bezieht und die Verdienste dieser Frauen im Kampf für das Evangelium nicht vergessen hat.

4,4-7 Mahnung zur Freude im Herrn
Die Nähe des Herrn soll die Gemeinde ihres Heilsstandes vergewissern, dies soll sie in der Güte gegenüber anderen Menschen ausstrahlen lassen. V. 7 ist nicht Wunsch, sondern Verheißung.

4,8f. Mahnung zur Bewährung von Rechtschaffenheit und Tugend.
Hinter dem, was in der Welt als ethisch höchststehend gilt, sollen auch die Christen nicht zurückbleiben.

4,10-20 Die Geldgabe der Philipper
Daß sich Paulus der Geldgabe der Philipper freut, begründet er nicht mit seiner finanziell angespannten Lage, denn er hat gelernt, autark zu sein. Wichtig ist die Gabe für die Philipper selbst: Sie wird ihnen selbst am Tag des Jüngsten Gerichtes zum Guten angerechnet. Paulus ist ähnlich autark wie der griechische Weise, doch liegt die Quelle solcher Autarkie nicht in seiner eigenen veränderten Wahrnehmung der Dinge dieser Welt beschlossen, sondern in Christus.

4,21-23 Schlußgrüße und Segenswunsch
Die Wendung „grüßt jeden Heiligen“ betont nochmals die Verbundenheit des Paulus mit der ganzen Gemeinde.

 

Last changes: 2002-11-15 Vogler